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Gottfried Böhms Bauten im fotografischen Archiv von der Ropp – Teil II

Der neue Sakralbau – markante Ortsbestimmung und liturgische Dynamik

von Manuela Klauser

Von Kindesbeinen an war Gottfried Böhm über die Bauten seines Vaters, des großen Kirchenbaumeisters der 1920er-Jahre, Dominikus Böhm, mit den Fragestellungen des modernen Sakralbaus im 20. Jahrhundert vertraut. Ob Glasfenster oder Deckenkreationen – ab den 1950er-Jahren war sein Anteil an den Bauaufträgen des Vaters von künstlerischer Selbstbestimmtheit und konstruktivem Innovationswillen geprägt. So verwundert es nicht, dass seine internationale Bekanntheit vor allem auf seinen vielfältigen Beiträgen zum Kirchenbau der Nachkriegsmoderne fußt. Gottfried Böhm erbaute um die siebzig Kirchen, Kapellen und Gemeindezentren und erfand das Zusammenspiel zwischen architektonischem Raum und liturgischem Spannungsfeld immer wieder neu. Er ging sogar weit darüber hinaus, indem er das urbane beziehungsweise landschaftliche Umfeld konsequent mit einbezog und innen wie außen dramatisch in Szene gesetzte Gesamtkunstwerke aus Material, Konstruktion, Licht und Raum schuf.

Der Großteil seiner Kirchen weist daher die unverwechselbare Eigenschaft auf, mehr als nur ein Gebäude darzustellen, das sich abstrakt von profaner Bebauung abhebt. Seine Bauten bilden stets einen ›Ort am Ort‹, der ganze Gebäudelandschaften über amorphen Grundrissen, asymmetrischen Höhen- und Breitendimensionen, Grundstücksmauerwerk und hinzugenommenen Anräumen entstehen lässt.

St. Marien, Neviges (1962–1968)

Das zwischen 1962 und 1968 geplante und errichtete Wallfahrtszentrum Maria, Königin des Friedens in Neviges, kurz Mariendom, zählt zu den international bekanntesten Kirchenbauten der Nachkriegszeit und gilt als Meisterwerk des skulpturalen Betonbaus. Die Kirche gehört zu einer Reihe von Bauten der 1960er-Jahre, für die der Begriff der Betonfaltwerk-Konstruktion geprägt wurde.
Mit seinen auf Erdgeschoss- und Emporenebene verteilten Plätzen für circa 6000 Pilgerinnen und Pilger ist der Mariendom eine der größten Kirchen des Erzbistums Köln. Im Grundriss entspricht der Raum einer großformatigen Saalkirche mit seitlich angeordneten Andachtsnischen. Böhm durchbrach in der Form eines sich wie ein Berg oder ein Kristall emporhebenden Betonfaltwerks jegliche Konventionen christlichen Bauens, wenngleich er damit in den frühen 1960er-Jahren nicht alleine war. Das Durchbrechen architektonischer Konventionen gehörte im Kirchenbau dieser Zeit geradezu zum guten Ton und wurde von kirchlicher Seite bewusst gefördert.

Die Perspektiven in den Aufnahmen der von der Ropps nehmen der Kirche ein wenig von ihrer mitunter fast bedrängend montanen Wirkung und lassen in der kristallinen Struktur der Außenwände eine Regelmäßigkeit erkennen, die es im Innenraum mit seiner großen Zahl von Andachtsnischen und vorkragende Logen rings um ein monumental emporsteigendes Gewölbe zunächst wiederzuentdecken gilt. So fremdartig das Material Beton auch heute noch anmuten mag, so erfolgreich hat der Architekt doch erreicht, hier eine der Sicht auf das Gelände und der Umgebung angemessene Pilgerstätte zu schaffen.

Vor- und rückspringende Wandflächen, die sich in der Deckenstruktur fortsetzen, zahlreiche in warmen Farbtönen verglaste Fenster (nach Entwürfen Gottfried Böhms) unterschiedlichen Formats und die Raumeinheit geschickt durchbrechende Einbauten wie Emporenbrüstungen, Einblicke in die Krypta durch balkonartig endendes Parterre oder die wie eine monumentale Säule zentral aufgestellte Betonkanzel lassen im Auge des Betrachters mannigfaltige Perspektiven und Eindrücke entstehen. Man erpilgert den Raum im wahrsten Sinne! Der teilweise kopfsteingepflasterte Belag und straßenlaternenartige Leuchtkörpern wecken ganz bewusste Assoziationen an Marktplätze und Straßenfluchten. Böhm schuf in Neviges einen Kirchenort, der keine Summe einzelner Funktionsbereiche unter einem Dach präsentiert, sondern die simultane Gegenwart von privater Andacht, individueller Spiritualität und gemeinschaftlicher Liturgie spürbar macht.

Christi Auferstehung (1963-70; Köln) und St. Matthäus (1962–70; Düsseldorf)

Ab 1962/63 plante und errichtete Böhm in den wachsenden Stadtteilsiedlungen Düsseldorf-Garath und Köln-Lindenthal zwei bemerkenswerte Pfarrkirchenkomplexe mit einer vergleichbar scharfgratigen Silhouette wie die des zeitgleich erbauten Mariendoms. Bei diesen beiden Bauten finden sich zudem kontrastreiche Backsteinflächen sowie Übergänge zu weiteren Anbauten. Ungewöhnliche Formen wie beispielsweise der offen-spiralförmige Treppenturm in Lindenthal verleihen den Projekten zusätzlich eine technoid-verspielte Urbanität. Die architektonischen Metaphern von Fels und Burg werden hier auf Pfarrkirchenebene signifikant miteinander verwoben und lassen doch ganz eigenartige Gebilde entstehen, denen weniger schroffe Wehrhaftigkeit als vielmehr wohlplatzierte Zugänglichkeit zuzuschreiben ist.

1963 wurde der Bau der Pfarrkirche Christi Auferstehung auf einem Grundstück gegenüber dem Clarenbachkanal in Lindenthal begonnen. Seitlich sind dem Kirchenschiff in deutlich niedrigerer Bauhöhe ein Pfarrheim und Räume für die Gemeindebücherei angegliedert. Geschickt platzierte, die Struktur der horizontalen und vertikalen Linienführung markierende Wechsel von Backstein und Sichtbeton betonen den Charakter der Baugruppe als zusammengewachsenes Gebilde aus Kirchengebäude und zugehörigen Anbauten. Zwischen diesen Anbauten öffnet sich die Eingangszone als herausgehobener Ort mit gestuft-terrassiertem Vorplatz gegenüber dem fast unmittelbar vor der Kirche beginnenden Clarenbachkanal. Hinter dem Kirchenbau schraubt sich der Glockenturm mit offenem Treppengang in den Himmel.

Die dramatisch anmutende Fotografie der von der Ropps lässt in der Farbaufnahme den markanten Materialwechsel in den Hintergrund treten und verstärkt stattdessen das Wechselspiel der Lineatur und Struktur des Gebäudes – ein aus Schwarz-Weiß-Aufnahmen bekannter Effekt, der hier mittels eines Filters in die Farbfotografie übertragen ist.

Die Pfarrkirche St. Matthäus in Garath entstand auf einem Baugrundstück zusammen mit dem Seniorenheim St. Hildegard. Materialität, Formenvielfalt und die erneut metaphernreiche Anlehnung an den Burgenbau erzeugen eine gewisse Parallelität zum Kölner Bau, doch handelt es sich keineswegs um eine Variation desselben Entwurfs.

In der Garather Kirche wächst der Backstein aus der Sockelzone über emporragenden Turmbauten in den Dachbereich und darüber hinaus, während die Sichtbetonflächen konsequenterweise über die mannigfach facettierte Dachlandschaft mitunter bis auf Bodenniveau herabgezogen waren (heute durch eine teilweise neue Eindeckung verändert). Die Kirche definiert einen städtebaulichen Knotenpunkt zwischen Ortsteil und dem St.-Hildegard-Heim, dessen Anlage sich durch den außergewöhnlichen, dorfartigen Charakter aus Innenhöfen, Brückengängen, Grünflächen und meist zweigeschossigen Pflegebereichen, Zimmern beziehungsweise kleinen Wohnungen auszeichnet. Diese Besonderheit eines ›Orts am Ort‹ findet sich in zahlreichen Aufnahmen besonders betont.

St. Ludwig (Saarlouis; 1965/66)

1965 gewann Böhm einen von der Pfarrgemeinde ausgeschriebenen Wettbewerb zur Neuerrichtung des baufällig gewordenen Kirchenschiffs (1865/66) der Saarlouiser Stadtpfarrkirche St. Ludwig. Die einst vom Kölner Diözesanbaumeister Vincenz Statz errichtete Turmfassade (1883–1885) war dabei zu erhalten. Böhm schlug einen an die neugotische Fassade anschließenden, jedoch kompromisslos modernen Neubau vor. Einzig die Proportionen und Höhendimensionen des Vorgängerbaus wurden als Richtwerte beibehalten.

Die stützenfreie Halle ist mit ihren asymmetrisch verspringenden Längswänden und dem in unterschiedlichen Höhen ansetzenden Gewölbe zunächst ebenfalls dem Typus skulptural aufgefasster Betonfaltwerk-Konstruktionen zuzuordnen. Einzelne Fensteröffnungen setzen schlaglichtartige Akzente (Buntglas-Fenster von Ernst Alt, 1980er-Jahre). Schalungsraue Betonwände und scharfkantige Konstruktionselemente kontrastieren mit weich gekurvten Details. Der mit kleinformatigen Quadratfliesen ausgelegte Fußboden verleiht dem weitläufigen Bau ein rationales Grundraster, lässt aber auch in den standortabhängig fluchtenden Fugenlinien einen visuellen Sog in den Innenraum entstehen.

Inge und Arved von der Ropps kurz vor der endgültigen Fertigstellung des Raums entstandene Serie von schwarz-weißen und farbigen Innenaufnahmen erfasst eindrucksvoll die sich aus materiellen und konstruktiven Gegensätzen entwickelnde Spannung des Raums. Immer wieder suchen sie dabei auch das Spannungsfeld zwischen Detail und Weitwinkel einzufangen. Insbesondere die ursprüngliche liturgische Qualität der freigestellten, kreisrunden Altarinsel (heute stark verändert) ist in den Fotografien klar erfasst. Die ebenfalls für Böhm typischen, an Straßenlaternen erinnernden Beleuchtungskörper waren ursprünglich vom Eingang kommend um den Altar aufgestellt (heute ebenfalls verändert) und erinnerten somit entfernt an das einst vom Vater Dominikus Böhm erdachte Circumstantes-Konzept als Symbol der den Altar umstehenden Gemeinde.

Weiterführende Literatur (Auswahl):
- Frank Dengler, Bauen in historischer Umgebung. Die Architekten Dieter Oesterlen, Gottfried Böhm und Karljosef Schattner, Hildesheim u. a. 2003.
- Der Architekt Gottfried Böhm. Zeichnungen und Modelle, hrsg. vom LVR, Ausst.-Kat. Rheinisches Landesmuseum Bonn, Köln 1992.
- Gottfried Böhm. Bauten im Rheinland 1950 –1980, hrsg. von Svetlozar Raèv, Ausst.-Kat. Bergisch Gladbach 1995.
- Gottfried Böhm, hrsg. von Wolfgang Voigt, Ausst.-Kat. Deutsches Architekturmuseum (DAM), Frankfurt am Main 2006.
- Wolfgang Pehnt, Gottfried Böhm, Basel 1999. Zum 100. Geburtstag von Gottfried Böhm, hrsg. von Wolfgang Pehnt, das münster, Sonderheft 73/2 (2020).

Dr. Manuela Klauser arbeitet als freie Kunsthistorikerin, Kuratorin und Autorin sowie als Redakteurin des Internetportals Straße der Moderne, das Kirchenbauten der letzten hundert Jahre und daran beteiligte Kirchenbaumeister, Architekten und Künstler porträtiert.

Weitere Fotografien zu Gottfried Böhm aus der Sammlung Arved von der Ropp finden Sie hier.