Themenwelt

Von Rheydt nach Yokohama

1897 bereist der Fabrikant Max Goertz Südostasien

von Holger Hintzen

 

Auf der Straße sieht man höchst selten eine Frau, da es für eine Frau eine Ehre ist, sagen zu können, seit so und so viel Jahren bin ich nicht aus dem Hause gewesen. Will eine Coreanerin aber dennoch ausgehen, stellt sich die wirkliche »weiße Dame« mit einem langen, weißen Tuch über dem Kopf dar. Die Tracht der Arbeiterfrauen ist ebenfalls befremdend. Alles ist bekleidet, nur die Brüste sind frei.[1]


Keine Frage, Max Goertz war irritiert. Der Anblick nackter Frauenbrüste in der Öffentlichkeit dürfte für den unverheirateten Baumwollfabrikanten ungewohnt gewesen sein. Doch Tausende Meilen von seiner Heimatstadt Rheydt entfernt, in einem Dorf in Korea, hat auch die dort 1897 noch übliche vollständige Verhüllung der Frauen gehobeneren Standes den Reisenden fasziniert. Zum Glück hatte er seine Kamera dabei, als eine solche Gestalt an ihm vorüber wandelte – eingehüllt in mehrere Lagen weißer Tücher, von denen das längste bis nahezu auf die Knöchel des darunter verborgenen Wesens herabfiel. So muss sich Goertz in Kindertagen ein Gespenst vorgestellt haben. Womöglich ist Goertz diese Assoziation auch hin und wieder gekommen, wenn er in späteren Jahren in den dickleibigen Alben blätterte, in denen er die fotografische Ausbeute seiner im Frühjahr und Sommer 1897 als Mitglied einer Handelskommission unternommenen Reise nach China, Korea und Japan geordnet hatte.

 

Korea: Bekleidung beim Ausgehen.

Korea: Bekleidung beim Ausgehen.

 

Zu den mehr als tausend im Greven Archiv Digital präsentierten Bildern der Sammlung Goertz gehören auch Fotos der Reisestationen Genua, Neapel, Port Said, Aden und aus dem damaligen Ceylon. Nicht alle Bilder hat Goertz selbst gemacht. Einen Großteil der Aufnahmen hat er erworben, denn sie stammen von professionellen Fotografen.

Über die Fotosammlung hinaus hat Goertz einen unterwegs verfassten Reisebericht hinterlassen, den er in Kopien Stück für Stück als Brief an die Familie daheim schickte. Die Ausführungen waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern wohl nur für Verwandte und Bekannte, denen Goertz im gehobenen Plauderton von seinen Abenteuern erzählen wollte. Ziemlich unverstellt schildert er, wie er ihm völlig fremde Kulturen erlebt, und freimütig urteilt er über das Gesehene – eine Reportage, die auch und gerade da, wo sie humorige Züge hat, viel über die Haltung eines gebildeten Europäers gegenüber Asiaten in der Hochzeit des Imperialismus verrät.

 

China: in einer Gerberei.
China: in einer Gerberei.

 

Aufbewahrt haben Goertz und seine Nachfahren auch vertrauliche, der Kommission mit auf den Weg gegebene Unterlagen. Sie enthalten detaillierte Aufträge und Fragenkataloge von Branchenverbänden, Handelskammern und einzelnen Unternehmen. Eine bedeutende Rolle spielten offenbar die Handelskammern in Krefeld, München-Gladbach, Plauen, Chemnitz und Dresden, die sich neben der sächsischen Regierung und anderen Kammern an den Kosten der Expedition beteiligten. Das Protokoll einer Diskussion von Unternehmern bei der Handelskammer in Plauen umriss die Erwartungen in aller Klarheit:
 

Die Aufgabe der Kommission sei dahin festgestellt, zu untersuchen, welche Artikel mit Erfolg nach dem chinesischen und japanischen Markt exportiert werden können, ferner, welche Konkurrenz von Japan zu gewärtigen sei, sowie unter welchen Umständen dort deutsches Kapital zu produktiven Anlagen Verwendung finden könne. Ferner sei bestimmt, daß es Aufgabe der Reichskommission nicht sein dürfe, direkt Geschäfte für einzelne Interessenten abzuschließen, da man davon ausgegangen sei, daß diese durch öffentliche Mittel ausgestattete Expedition nicht für die Interessen Einzelner nutzbar gemacht werden dürfe, sondern daß ihr Ergebniß der gesammten deutschen Industrie zu gute kommen solle, selbstverständlich unter Voraussetzung gewisser diskreter Verwerthung, damit nicht auch das Ausland aus den Ergebnissen Vortheile ziehe.


Zwar hatten von der Leder- bis zur Keramikindustrie diverse Branchen Fragenkataloge erstellt, doch die Textilindustrie war offenbar besonders interessiert. Sie war in den Handreichungen für die Kommission sowohl mit ausführlicheren Ausarbeitungen – wie etwa einer des Vereins deutscher Wollkämmer- und Kammgarnspinner – vertreten, aber auch mit knapperen Anfragen einzelner Unternehmen. Ein Naumburger Trikotagen- und Strumpfwarenfabrikant beispielsweise wollte erkunden lassen, wie groß das Interesse an gerippten wollenen Kinderstrümpfen und unifarbenen, gestreiften, karierten und gemusterten Sportstrümpfen für Radfahrer oder Jäger sei. Amüsant fand Goertz das Interesse der Plauener Handelskammer an Korsetts. Mit deutscher Gründlichkeit sollten die Herren der Kommission auch ermitteln, ob Chinesinnen und Japanerinnen Korsetts trugen und falls ja, wie sie getragen wurden.

Goertz Vater Eduard war Mitgesellschafter der 1861 im Rheydter Stadtteil Mülfort gegründeten Baumwollspinnerei Gebr. Mühlen & Cie., in die der 1864 geborene Sohn 1895 eingetreten war. Drei weitere Mitglieder der neunköpfigen Gesandtschaft waren wie Goertz Repräsentanten der rheinischen Textilindustrie: Walter Crous und Alexander Jores, beide Rohseidenhändler aus Krefeld, sowie Alexander Keußen, Seidenwebereifabrikant aus Krefeld. Aus Sachsen war mit Georg Harting ein Kammgarnspezialist aus Dresden an Bord, überdies ein Mann mit Erfahrung in der Textilbranche wie im Ausland: Moritz Schanz. Zu den schriftlichen Zeugnissen seiner Reisen gehört das 1897 erschienene Buch Ein Zug nach Osten. Reisebilder aus Indien, Birma, Ceylon, Straits Settlements, Java, Siam, China, Korea, Ostsibirien, Japan, Alaska und Canada.

Dass für die Mission durchweg jüngere Herren ausgesucht worden waren, erschien Max Nössler, auf dem Reichspostdampfer »Sachsen« gen Osten mitreisender Herausgeber eines Japanisch-Deutschen Industrie-Anzeigers und eines Chinesisch-Deutschen Industrie-Anzeigers, im Hinblick auf die “erschlaffende Hitze in den Tropen, die Strapazen und Entbehrungen auf den Reisen im Inneren Chinas und Japans” sehr weise. Dennoch berichtete er später in seinen Mitteilungen über einen dreimonatlichen Aufenthalt in Ostasien: “Wie ich die Mitglieder der Kommission nach zehn Wochen in Shanghai wiedersah, war ich erstaunt, wie abgemattet dieselben aussahen.”

Von dieser Erschöpfung ist auf den Fotos, die Goertz von der Reisegesellschaft gemacht hat, nichts zu sehen. Allgemeine Ermattung zeigt lediglich ein Bild von Passagieren in Liegestühlen an Deck der »Sachsen«. Allerdings war der angegriffene Zustand der Abgebildeten weder Folge von Überarbeitung noch von Tropenhitze. Er rührte von einem Kostümball her, der in der Nacht zuvor gefeiert worden war. Die übrigen Aufnahmen von Kommissionsmitgliedern zeigen diese unter anderem beim Verteilen von Almosen, in bierseliger Laune mit Chinesen und beim Besichtigen des Teeversands in Hankow.

 

Am Morgen nach dem Maskenball.
Am Morgen nach dem Maskenball.

 

Die Reise der deutschen Kommission war in europäischer Perspektive betrachtet eine von mehreren Unternehmungen solcher Art und nicht die erste. Frankreich (1895) und England (1896) hatten bereits ähnliche Expeditionen nach China geschickt. Dessen Märkte waren zwar schon seit mehr als tausend Jahren bekannt, gewannen aber im Zeitalter des Imperialismus eine noch größere Bedeutung. Angesichts der technologischen wie militärischen Überlegenheit der westlichen Mächte stellte deren Ausgreifen ein weitaus größeres Bedrohungspotenzial dar als die über Jahrhunderte gepflegten und dabei oft von der chinesischen Regierung bewusst eingedämmten Handelskontakte mit dem Westen. Diese hatten sich, so weit sie direkt auf chinesischem Territorium stattfanden, auf wenige Städte an den südlichen Küsten beschränkt. Europäische Händler und Unternehmensvertreter mussten sich dort von der Regierung auferlegten, auch die Handelspraktiken betreffenden Verhaltensregeln fügen.

Im 19. Jahrhundert wurde den auf Zugang zu allen Märkten pochenden westlichen Mächten diese Abschottung ein Dorn im Auge. In den Opiumkriegen (1839–42/1856–60) hatte das britische Empire seine Handelsinteressen mit militärischer Gewalt durchgesetzt und China Verträge zu höchst vorteilhaften Bedingungen für die Sieger diktiert. Vorrechte und Monopole chinesischer Kaufleute waren beseitigt, immer mehr Häfen und auch Flüsse für britische Schiffe geöffnet und der Opiumhandel legalisiert worden. Diese »ungleichen Verträge« veranlassten alsbald Russland, Frankreich und die USA auf den Plan, ähnliche Begünstigungen zu verlangen und durchzusetzen.

Die ersten deutschen Firmen hatten sich schon in der 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts in China niedergelassen. China-Aktivitäten einzelner deutscher Unternehmen waren staatlicherseits flankiert worden, als sich Preußen 1861 in einem Vertrag mit China die gleichen Vorrechte gesichert hatte, die auch andere westlichen Mächte genossen.
Vorangegangen war eine preußische Expedition, an der auch Vertreter aus Mecklenburg und der Hansestädte Bremen, Lübeck und Hamburg teilgenommen hatten. Fortan wuchs das deutsche Interesse an China: 1877 waren schon 41 deutsche Unternehmen in China tätig, darunter so große wie Krupp. 1889 gründete ein Konsortium deutscher Banken in Shanghai die »Deutsch-Asiatische Bank«.

Da an eine vollständige Eroberung und Kontrolle des riesigen Reiches nicht zu denken war, begnügten sich die westlichen Mächte bis auf Weiteres mit Kanonenbootpolitik und damit, das ohnehin vorrangige Interesse – die wirtschaftliche Ausnutzung – von ausländischen Enklaven in Städten wie Hongkong und Shanghai aus zu organisieren. In diesen »Settlements« machten Goertz und die deutsche Handelskommission mehrmals Station. Wie auf Inseln in einem Ozean einer höchst fremden Kultur pflegten Westler dort ihre Sitten und Gebräuche, etablierten sie Banken und Repräsentanzen – und sehnten sich nicht selten nach einer Rückkehr in die Heimat.

 

Hongkong: Portugiesischer Friedhof.
Hongkong: Portugiesischer Friedhof.

 

Als Goertz 1897 nach China aufbrach, waren Deutschlands Interesse an dem vermeintlich immensen Markt des »Reichs der Mitte« und deutscher Drang nach Geltung im Konzert der Großmächte im Aufwind. Zwei Jahre zuvor hatte sich das Reich nach einer gemeinsam mit Frankreich und Russland unternommenen Intervention im chinesisch-japanischen Krieg zwei kleine Territorien in Hankou und Tianjin gesichert, die sich allerdings nicht für Seehäfen eigneten.
Nicht zuletzt dem marinevernarrten Kaiser Wilhelm II. erschien es jedoch geboten, einen Platz zu gewinnen, von dem aus man nicht nur das Hinterland wirtschaftlich durchdringen konnte, sondern an dem darüber hinaus deutsche Schiffe auf ihren Fahrten auf den fernöstlichen Meeren Treibstoff in Form von Kohle laden konnten. Demonstrationen militärischer Stärke galten vielen Zeitgenossen als nötig, um den ungleichen Handelspartner zu dominieren und sich Erfolg in der Konkurrenz mit anderen Mächten zu sichern. So notierte auch Max Goertz ein ums andere Mal befriedigt die Präsenz deutscher Schiffe und Offiziere und deutscher Militärberater, bedauerte aber auch immer eine starke Präsenz russischer oder englischer Konkurrenten.

 

China-Jangtsekiang: "Kaiser und Irene (deutsche Kriegsschiffe)"
China-Jangtsekiang: "Kaiser und Irene (deutsche Kriegsschiffe)"

 

Goertz traf 1897 in Kiautschou zu einem Zeitpunkt ein, als Pläne für den Erwerb einer deutschen Kolonie in China akut wurden. Nicht von ungefähr begegnete er dort bei einem Empfang Admiral von Tirpitz, der als Kommandeur des ostasiatischen Geschwaders die Region auskundschaften sollte, bis Wilhelm II. ihn auf den Posten des Staatssekretärs im Marineamt hieven konnte. In seinem Reisebericht erwähnt Goertz Tirpitz nur kurz, obwohl er beim Diner neben dem Admiral saß. Tirpitz sei ein “sehr netter liebenswürdiger Herr”, befand Goertz nach der Begegnung – mehr auch nicht.

Kurz nach Goertz’ Abreise wurde dann ein Vorwand gefunden, die Pläne zu realisieren. Als am 1. November zwei Missionare von Chinesen getötet wurde, gab Wilhelm II. fünf Tage später den Befehl, zu handeln. Am 14. November besetzten Deutsche die Hafenstadt Tsingtau und erzwangen einen Pachtvertrag.

Die Ermordung der Patres zeigt, wie viel Ablehnung den Europäern außerhalb ihrer unter eigener Jurisdiktion stehenden Enklaven in Hongkong oder Shanghai entgegenschlug. Goertz war dies durchaus nicht unbekannt, berichtet er doch anlässlich eines Kirchenbesuchs in Hongkong vom “Haß der einheimischen Confucius Anhänger” auf katholische Priester, und wenig später von einer Seidenfilatur, die von Chinesen angezündet worden sei, nachdem dort Dampfbetrieb eingeführt worden war.

Mehrmals versichert er jedoch, dass es in China eigentlich ungefährlich sei. Das Niederbrennen der Seidenfilatur wird fast zur Anekdote, denn im gleichen Atemzug schildert er:
 

In einigen Sachen hat der Chinese eine originelle Art zu imitieren, z. B. in Dampfbooten. Zeitweise sieht man Ruderboote mit einem Schornstein, worin, um auch das wirkliche Rauchen der Dampfer nachzuahmen, zeitweise
Papier verbrannt wird.


An anderer Stelle – vielleicht zur Beruhigung der Verwandten – notierte der Rheydter:
 

Die kindliche Natur der Chinesen ist mir jetzt besonders auffallend, denn außer dem Schimpfwort ›yan kwe tse‹, etwa fremder Teufel, finde ich überall bei freundlichem Auftreten auch freundliche Gesichter. Überall bietet der
wohlsituierte Chinese Thee an und der feierliche Willkommensgruß mit gefalteten Händen und stetem Verbeugen beweist erst recht den hohen Grad der Unterwürfigkeit, d. h. bei business expected.


Es wäre interessant zu wissen, was Goertz mit dem Jesuitenpater Frank Scherer besprach, den er in Shanghai traf. Dieser hatte zwei Jahre zuvor auf einem Missionsposten erlebt, wie die Missionare von Banden und Angehörigen jener Boxer-Gesellschaft bedroht wurden, für deren »Aufstand« wenig später der westliche Einfluss in China ein wichtiges Motiv lieferte. Keine Frage, schon 1897 hätte Goertz’ Abenteuer in China auch übel enden können.

 

China-Wuhan-Hankou: Eine von spanischen Schwestern geführte Schule.
China-Wuhan-Hankou: Eine von spanischen Schwestern geführte Schule.

 

Vielleicht hat das Herunterspielen der Gefahr aber auch mit dem Überlegenheitsgefühl des Westlers zu tun. Das war auf eigentümliche Weise mit Ängsten vermischt, wie sie in dem auch von Wilhelm II. benutzten Schlagwort von der “gelben Gefahr” im Osten zum Vorschein kamen. Die schiere Bevölkerungszahl Chinas spielte dabei eine wichtige Rolle.
So kam auch Goertz in seinem Bericht immer wieder auf “ameisenhaftes” Menschengewimmel an diversen Orten zurück. Ebenso auf die hygienischen Verhältnisse, die mit denen in Westeuropa sicherlich nicht vergleichbar waren, sofern man sich nicht in der Sphäre der chinesischen Oberschicht bewegte. Beide Themen kommen in diesen
Zeilen zusammen:
 

“Während Hangshow zu den jetzt eröffneten Plätzen für Europäer gehört und einen friedlichen Eindruck macht, war Haining trotz der Meerverbindung das richtige dreckige China. Bettler, verstümmelt und unverstümmelt, Kranke
aller Art, mit Wunden bedeckte, elende Hunde, alles trieb sich in den engen Straßen umher, während Lastträger fortwährend singend und rufend ihre Lasten im Schnellschritt vorantrugen.”


Rückständigkeit, Misswirtschaft, Faulheit der herrschenden bürokratischen Klasse, fehlendes Mitgefühl und eine geradezu kindliche Natur, die womöglich auf die Abgeschlossenheit des Landes gegen die höher entwickelte westliche Welt zurückzuführen seien: das sind weitere Eindrücke, die sich beim reisenden Rheydter einstellten.
Mitunter bemerkt Goertz aber auch, dass die Chinesen auf manchen Gebieten »aufholen«.
“In Hangshow kamen grade die Maschinen zu der neuerbauten Baumwollspinnerei an, die von den Chinesen dort gegründet war”, notiert er beispielsweise.
So war sein Blick etwas differenzierter als der einer Gesprächspartnerin, die er in Peking bei einem Dinner traf:
Baronin von Heyking, Frau des deutschen Gesandten in Peking, die 1903 mit dem Roman Briefe, die ihn nicht erreichten einen Bestseller schreiben sollte.
“Chinesen sind schmutzige Barbaren, welche keine europäischen Gesandten, sondern europäische Herren brauchen”,vermerkte von Heyking in ihren Tagebüchern, höchst indigniert darüber, dass diese “brodelnde Masse der Eingeborenen” glaube, eine Weisheit und Zivilisation zu besitzen, "die sie berechtigt, verächtlich auf uns herab zu schauen."

Goertz’ Eindrücke in Korea unterschieden sich nicht grundlegend von denen im ländlichen China:
 

Arm wie eine Kirchenmaus lebt der gewöhnliche Koreaner in schmutzigen Lehmbuden und ist die weiße Kleidung nur aus dem einen Grunde zu erklären, daß den Frauen reichlich Arbeit gegeben wird, die Sachen zu waschen. (…) Obwohl das Land an sich reich, d. h. Gutes China, guter Boden und reich an Mineralien wie Gold, Kupfer, Kohle etc., ist der Coreaner ebenso arm wie genügsam und faul. Hat er einige Cent verdient, so werden dieselben aufgebraucht, bevor er wieder beginnt zu arbeiten. Rauchen und Domino Spielen sind zwei Lieblingsbeschäftigungen und während sie unter sich häufig scandaliren, sind sie gegen Fremde sehr ruhig.

 

Korea: Alltag eines Dorfes.
Korea: Alltag eines Dorfes.

 

Anders die Lage in Japan, das Goertz im Juli 1897 bereiste. Dort war die Abschottung gegen den Westen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch extremer gewesen. Weil der Einfluss der Fremden, vor allem ihrer Missionare, Mitte des 17. Jahrhunderts als zu groß und zu schädlich für die eigene Kultur erachtet wurde, waren die bis dahin im Japanhandel
engagierten Portugiesen des Landes verwiesen worden. Selbst die Vertreter der als einzige westliche Handelsmacht geduldeten niederländischen Vereenigde Oost-Indische Compagnie hatten sich nur in geringer Zahl und nur auf einer winzigen Insel im Hafen von Nagasaki aufhalten dürfen.

Seit der Meiji-Revolution, die die jahrhundertelange Herrschaft der Shogune beendete, hatte sich Japan seit den 1860er-Jahren jedoch entschieden, vom Westen selektiv und unter Kontrolle der Regierung zu lernen, was als nützlich und nötig erachtet wurde, gegenüber dem Westen an Stärke zu gewinnen und sich die schwache Rolle Chinas zu ersparen. Von 1871 bis 1873 hatte eine Gesandtschaft aus Politikern, Gelehrten und Studenten Europa und die USA bereist, um sich über den Stand der westlichen Technik und Wissenschaften, des Militärwesens, der Rüstung, aber auch der Staatsverfassung zu informieren. Und so hatte Japan nicht nur die Erfahrung deutscher Militärberater genutzt, sondern sich bei der Gestaltung seiner Verfassung an der preußischen orientiert.

Entsprechend positiver ist das Bild, dass Goertz von Japan zeichnet. Schon bei seiner Ankunft im Hafen von Nagasaki wurde offenbar klar, dass sich Japan seit seiner vorsichtigen Öffnung zum Westen hin in einer neuen Position befand. Seien Rikscha-Fahrer dort früher “ein Bild der Einfachheit und Zufriedenheit gewesen”, finde man nun, “wo die westliche Cultur schon Früchte trägt”, auch bei diesen “Kulis freche und arrogante Leute, die abgesehen von unverschämten Forderungen vor einer Keilerei nicht zurückschrecken.”
Goertz zieht daraus folgende Lehre: “Wehe dem, der von China kommt und gewohnt ist, mit dem Stocke den Kuli anzutreiben oder zu lenken.”

 

Japan-Osaka: Straße mit Theatern und Geschäften.
Japan-Osaka: Straße mit Theatern und Geschäften.

 

Nicht nur die Reize der Landschaften und der japanischen Frauen, an denen Goertz "die klugen Augen, den schönen Busen und die blendendweißen Zähne" bewundert, übertreffen offenbar vieles in China Gesehene. Auch die wirtschaftliche Entwicklung erschien ihm weitaus fortschrittlicher:
 

Die Industrie Osakas ist so reichhaltig, daß von Lampendochten bis fertigen Dampfern wohl so ziemlich alles hergestellt wird und wer sehen will, wie man blankets in England, zwei Cylinder Garn in Sachsen, Seide in Italien etc.
verfertigt, der braucht nur nach Osaka zu gehen, wo er außerdem noch Gewinnung von Kupfer durch Electrolyse gratis hinzu sieht. Aber die Losung für Alle und Alles ist Japan für die Japaner.


Das entsprach wohl auch den Erwartungen des Reisenden. In den vertraulichen Papieren, die der Kommission mitgegeben worden waren, hatte Goertz lesen können, wie sehr das zur Industrienation aufsteigende Japan von deutschen Firmen bereits als Konkurrent gefürchtet wurde. Die Fähigkeit, westliche Technologie zu übernehmen, um dann mit fleißigeren und geschickteren Arbeitern bessere oder billigere Produkte zu schaffen, fand sich im Protokoll einer Versammlung in der Handelskammer Plauen ebenso erwähnt wie die Bemerkung eines Tuchfabrikanten, es stehe zu erwarten, dass Japan “das östliche England” werde.

 

Japan-Yokohoma: Europäische Siedlung.
Japan-Yokohoma: Europäische Siedlung.

 

Gewiss spielten diese Eindrücke in Japan eine Rolle für das Fazit, das Goertz auf der Heimreise und damit gegen Ende seines Berichtes zog:
 

In Singapore angekommen, fiel mir sofort der Menschen Unterschied auf. Während in China, Korea und Japan, wenn auch gelbe, jedoch fleißige Menschen mir entgegen traten, fand ich die Schwarzen in Indien ganz erbärmlich faul, bettelnd, betrügend, kurz unangenehm. Dasselbe gilt für Colombo, Aden, Port Said. Es machen die Menschen daselbst einen mißarteten Eindruck, von Moralität keine Spur, einfach einen Tag zum anderen darauf los lebend.


Auch wenn der Verleger Max Nössler die Arbeit der Kommission als erfolgversprechend pries: Wie sehr sie dem Handel letztlich genutzt hat, ist schwer zu sagen. Den Export von Korsetts nach China und Japan dürfte sie jedenfalls nicht erheblich gesteigert haben. Zwar erwies sich das mit militärischen Mitteln flankierte Ausgreifen des Deutschen Reiches nach China als das einträglichste aller imperialistischen Abenteuer. Zwar war das Engagement in China für Unternehmen wie die Deutsch-Asiatische Bank, die Schantung-Eisenbahn-Gesellschaft oder die Germania-Brauerei profitabel. Doch die kühnsten Träume erfüllten sich nicht. 1910 machten die Exporte nach Asien und Australien etwas mehr als 9 Prozent der gesamten Exporte des Deutschen Reiches aus und lagen damit weit hinter denen in europäische Länder (circa 72 Prozent) und auch noch hinter denen nach Amerika (circa 16 Prozent), insbesondere in die USA.
Für Max Goertz war das Fernostabenteuer mit Sicherheit eine interessante Erfahrung, obwohl er es früher als die übrigen Kommissionsmitglieder Anfang August beenden musste. Laut Max Nössler war er erkrankt. Goertz selbst äußert sich in seinem Reisebericht nicht dazu. Ob die Asienreise seine Gesundheit nachhaltig beeinträchtigt hat, ist ungewiss. Goertz starb 1925 an einer Lungenentzündung. Zu seinem Vermächtnis gehörten sieben dicke Alben mit Fotografien.

 

Weiterführende Literatur:
- Werner Goertz: »Mit der ersten deutschen Handelsmission im Jahre 1897 nach Ostasien – Einblicke in die Reiseberichte von Max Goertz«. In: Rheydter Jahrbuch für Geschichte und Kultur der Stadt Mönchengladbach, hg. v. Otto-von-Bylandt-Gesellschaft, Teil 1: Bd. 28, 2009, S. 23–42;
- Teil 2: Bd. 30, 2015, S. 51–74.
- Liu Jing: Wahrnehmung des Fremden: China in deutschen und Deutschland in chinesischen
Reiseberichten. Vom Opiumkrieg bis zum Ersten Weltkrieg
 (Diss.), Freiburg 2003.

 

Holger Hintzen (geb. 1964) studierte Geschichte, Germanistik und Politik in Köln und arbeitet heute für die Redaktion Mönchengladbach der Rheinischen Post.

Die Sammlung von Max Goertz finden Sie hier.

 


  1. Orthografische und die Interpunktion betreffende Unstimmigkeiten in den Originalzitaten wurden hier und im
    Weiteren behutsam korrigiert Ferner ist dem Redaktionsteam bewusst, dass diese und weitere Zitate problematisch sind. Zum Aufzeigen einer in dieser Zeit üblichen Geisteshaltung, von welcher u.a. auch der Kolonialismus getragen wurde, wurde sich dazu entschieden, diese trotzdem zu nutzen. ↩︎