Themenwelt

Romantik am Mittelrhein

Eine deutsche Sehnsuchtslandschaft

von Jürgen Kaiser

 

Charles Bernhoeft, 1895: 'Bacharach und die Ruine der Wernerskirche'.

Charles Bernhoeft, 1895: 'Bacharach und die Ruine der Wernerskirche'.

 

François Stroobant, 1850: 'Bingen' (Chromolithographie).

François Stroobant, 1850: 'Bingen' (Chromolithographie).

 

Ein mächtiger Strom, eingefasst von einer wald- und rebenreichen Felskulisse, bekrönt von unzähligen Burgen und umrahmt von Fachwerkdörfern und Kleinstädten mit reicher Geschichte – das ist der Mittelrhein zwischen Bingen und Bonn. Zur deutschen Sehnsuchtslandschaft wurde er erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zeitalter der Romantik. Doch es war weniger weinselige Gefühlsduselei, sondern der aufkeimende gesamtdeutsche Patriotismus, der das Mittelrheintal in den Fokus der intellektuellen und politischen Elite rückte.

Die Niederlage gegen Napoleon sowie die offizielle Abtretung aller linksrheinischen Gebiete 1801 an Frankreich wurde als größtmögliche Schmach empfunden. Der Rhein war nun vollständig zur deutsch-französischen Grenze geworden. Nach der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht von Leipzig war es daher ein Akt von höchster Symbolkraft, als General Blücher in den ersten Januartagen 1814 von Kaub aus mit seiner Armee über den Rhein setzte, um die fliehenden französischen Truppen des Kaisers zu verfolgen.

Mit der nachnapoleonischen Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress kam das gesamte Rheinland 1815 an Preußen. Das Koblenzer Schloss, das sich der letzte Trierer Erzbischof und Kurfürst errichtet hatte, wurde nun zur rheinischen Residenz des Preußenkönigs. Nachfolgend ließen die Preußenherrscher das gegenüberliegende Ehrenbreitstein zur stärksten Festungsanlage des Kontinents ausbauen, um für alle Zeiten Frankreich in seine Schranken zu weisen.

 

Florian Monheim, 2006: Festung Ehrenbreitstein in Koblenz.

Florian Monheim, 2006: Festung Ehrenbreitstein in Koblenz.

 

Unter preußischer Führung gelang im deutsch-französischen Krieg 1870/71 die Einigung der deutschen Fürstentümer zum Kaiserreich. Um diesem historischen Ereignis eine wirkungsmächtige Erinnerungsstätte zu errichten, begann schon im Frühjahr 1871 die Planung eines der größten Denkmäler der wilhelminischen Epoche. Hierfür wählte man ganz bewusst eine erhöhte Lage oberhalb von Rüdesheim am Rhein aus, um auch hier den deutschen Anspruch auf den Rhein gegenüber Frankreich zu markieren. Auf der Spitze des gewaltigen Bauwerks erhebt sich die Monumentalfigur der Germania, die in ihrer Rechten die mittelalterliche Reichskrone emporreckt. Im Sockel findet sich entsprechend die Kriegshymne »Wacht am Rhein« unter dem Relief der deutschen Fürsten, die Wilhelm I. zum Kaiser des vereinigten Deutschlands ausrufen. Selbst wenn der militärisch-nationale Aspekt jetzt keine Rolle mehr spielt, gehört das Niederwalddenkmal noch heute zu den beliebtesten Orten auch des internationalen Rheintourismus.

 

Charles Bernhoeft, 1895: 'Das Nationaldenkmal auf dem Niederwald'.

Charles Bernhoeft, 1895: 'Das Nationaldenkmal auf dem Niederwald'.

 

Unterhalb des Niederwalddenkmals steht mitten im Rhein auf einer kleinen Felseninsel der Mäuseturm. Im 14. Jahrhundert entstand er zusammen mit der rechtsrheinischen Burg Ehrenfels als Zollstation des Mainzer Kirchenfürsten, die ihm enorme Einnahmen sicherte. Ein quer im Fluss liegendes Felsenriff erschwerte die Durchfahrt, sodass leicht abzukassieren war. Die schaurige Sage vom geizigen Erzbischof Hatto, der eine große Anzahl lästiger Bettler in einer Scheune verbrennen ließ, worauf ihn die Mäuse bis auf die Felseninsel verfolgten und zur Strafe auffraßen, ist untrennbar mit diesem Bauwerk verbunden. Doch sie entbehrt jeder historischen Grundlage und ist vielmehr, wie die meisten Rheinsagen, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, um vor allem die gruselbegeisterten englischen Touristen zu unterhalten, die damals den Hauptanteil der Rheinbesucher bildeten.

 

Paul Lauters, 1850: 'La Tour des Souris et Ehrenfels' (Chromolithographie).

Paul Lauters, 1850: 'La Tour des Souris et Ehrenfels' (Chromolithographie).

 

Seine neugotische Gestalt erhielt der Mäuseturm erst 1855 auf Wunsch König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen durch den Kölner Dombaumeister Ernst Friedrich Zwirner, um die Südgrenze des preußischen Rheinlandes wirkungsvoll zu markieren. Bis heute dient er auch als Wahrschauzeichen für den Schiffsverkehr. Historische Aufnahmen zeigen rund um Burg Ehrenfels noch die ursprüngliche Anlage der Weinberge in unzähligen kleinen Terrassen aus Trockenmauern. Die Flurbereinigung der 1960er-Jahre, die eine maschinelle Bewirtschaftung der Weinberge ermöglichen sollte, zerstörte nicht nur eine einmalige Kulturlandschaft, sondern auch ein wertvolles Biotop.

 

Charles Bernhoeft, 1895: 'Der Müsethurm'.

Charles Bernhoeft, 1895: 'Der Müsethurm'.

 

Neben Binger Mäuseturm und Niederwalddenkmal ist vor allem der Loreley-Felsen zum Inbegriff der Rheinromantik und des Rheintourismus geworden. Selbst in Zeiten des Nationalsozialismus wollte man von diesem Mythos profitieren und ließ oberhalb des Felsens eine sogenannte Thingstätte in Gestalt eines griechischen Theaters anlegen, um dort propagandistische Blut-und-Boden-Spiele abzuhalten. Mächtig schiebt sich der markante Schieferfelsen in den Fluss vor, der hier am engsten und zugleich am tiefsten ist. Die gefährliche Strömung und die engen Kurven sind bis heute eine Herausforderung an die Schifffahrt. Vor dem Bau der Eisenbahntunnel und Straßen verstärkte zudem ein mehrfaches Echo zwischen den Felswänden den etwas unheimlichen Charakter dieses gefährlichen Ortes. Doch die Sage von der schönen Zauberin Loreley, die auf dem Felsen ihre langen, blonden Haare verführerisch kämmt und damit die Schiffer ins Verderben reißt, ist eine höchst erfolgreiche Erfindung Clemens Brentanos aus dem Jahr 1801. Heinrich Heine griff 1824 dieses Motiv in einem Gedicht auf, das 13 Jahre später durch Friedrich Silcher vertont wurde und so seinen bis in die Gegenwart andauernden Weltruhm gewann. Auch heute darf man sich nicht wundern, wenn oben auf dem Felsplateau chinesische Reisegruppen dieses Lied anstimmen.

 

Charles Bernhoeft, 1895: 'Die Lurlei'.

Charles Bernhoeft, 1895: 'Die Lurlei'.

 

Was dem Mittelrhein bis heute seine einzigartige Wirkung verleiht, ist nicht nur der schluchtartige Verlauf, sondern auch die europaweit größte Dichte an Burgen. Sie künden bis heute davon, wie hart umkämpft die Kontrolle des einträglichen Handelsverkehrs auf dieser einstigen Hauptstraße Europas zwischen den verschiedenen Adelshäusern im Mittelalter war. Glücklicherweise blieben zwei dieser Burgen erhalten und liefern uns so bis heute eine anschauliche Vorstellung davon, wie solche Bauwerke tatsächlich aussahen. Zum einen ist dies die Marksburg oberhalb von Braubach, die später als Erbe an die Landgrafen von Hessen kam. Heute ist sie Sitz der Deutschen Burgenvereinigung.

 

Paul Lauters, 1850: 'La Marksburg' (Chromolithographie).

Paul Lauters, 1850: 'La Marksburg' (Chromolithographie).

 

Zum anderen ist es der gotische Pfalzgrafenstein, der sich als einstige Zollburg schiffsartig inmitten des Rheins erhebt. Zusammen mit der romanischen Burg Gutenfels oberhalb von Kaub bilden beide Bauwerke zusammen ein einmaliges Ensemble inmitten der Flusslandschaft. Reisende des Mittelalters beschlichen bei ihrem Anblick aber keine romantischen Gefühle, war hier doch schon wieder Maut zu zahlen, diesmal für den pfälzischen Kurfürsten.

 

Théodore Fourmois, 1850: 'La Pfalz' (Chromolithographie).

Théodore Fourmois, 1850: 'La Pfalz' (Chromolithographie).

 

Charles Bernhoeft, 1895: 'Caub. Schloss Gutenfels und die Pfalz'.

Charles Bernhoeft, 1895: 'Caub. Schloss Gutenfels und die Pfalz'.

 

Alle anderen Burgen des Mittelrheins fielen aber der Zerstörungswut der Truppen des sogenannten Sonnenkönigs Ludwig XIV. von Frankreich zum Opfer, der im späten 17. Jahrhundert schon einmal mit militärischer Gewalt versuchte, Frankreichs Ostgrenze bis zum Rhein zu verschieben. Als diesem Plan kein Erfolg beschieden war, ließ er 1689 alle Burgen niederbrennen und sprengen. Diese »Schmach« blieb im historischen Bewusstsein der Rheinländer über die Jahrhunderte wach. Nachdem Preußen die Herrschaft am Rhein angetreten hatte, galt es als besondere patriotische Tat, diese Burgen wieder neu zu errichten. Militärisch hatten sie natürlich keine Funktion mehr. Doch war die nationale Symbolwirkung ihres Wiederaufbaus umso stärker.

1823 erwarb Prinz Friedrich von Preußen die Ruinen der Burg Rheinstein, die markant auf einem Felsen den Rhein überragen. Mit beinahe denkmalpflegerischer Akribie ließ er die erhaltenen gotischen Bauteile bis 1829 behutsam ergänzen. Später fügte er noch die neugotische Schlosskapelle und das hölzerne Schweizerhaus oberhalb hinzu. Damit hatte er Bahnbrechendes geschaffen, das allgemeine Bewunderung fand.

 

Charles Bernhoeft, 1895: 'Schloss Rheinstein'.

Charles Bernhoeft, 1895: 'Schloss Rheinstein'.

 

1834 kauften die vier Söhne des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. die Ruinen der Burg Sooneck und ließen sie 1843–1861 unter Wahrung des alten Bestandes ausbauen. Sie diente ihnen als standesgemäßer Sitz für ihre Jagden im nahen Soonwald.

 

Charles Bernhoeft, 1895: 'Sooneck'.

Charles Bernhoeft, 1895: 'Sooneck'.

 

Die bedeutendste Wiederaufbauleistung einer mittelalterlichen Rheinburg stellt jedoch Stolzenfels südlich von Koblenz dar. Der spätere König Friedrich Wilhelm IV. residierte als Kronprinz zeitweise in Koblenz. Angeregt durch die Burg Rheinstein seines Cousins Friedrich von Preußen, ließ er 1836–1842 von den bedeutenden preußischen Architekten Karl Friedrich Schinkel und Friedrich August Stüler aus den mittelalterlichen Ruinen ein Juwel der Neugotik schaffen. Unter den drei mittelrheinischen Preußenburgen war es allein Schloss Stolzenfels, dessen Inneneinrichtung auch größtenteils erhalten blieb. Hielt der König sich dort mit seinem Hof auf, dann »ging man im Mittelalter«, das heißt, man kleidete sich auch in mittelalterliche Gewänder, um dem idealisierten Lebensgefühl der damaligen Epoche ganz im romantischen Sinn möglichst nahe zu kommen.

 

Paul Lauters, 1850: 'Stolzenfels' (Chromolithographie).

Paul Lauters, 1850: 'Stolzenfels' (Chromolithographie).

 

Charles Bernhoeft, 1895: 'Schloss Stolzenfels'.

Charles Bernhoeft, 1895: 'Schloss Stolzenfels'.

 

Dem Vorbild des Königs und der königlichen Prinzen wetteiferten im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts Adelige und geadelte reiche Bürger beziehungsweise Unternehmer nach. Auch sie erwarben rheinische Burgruinen in Bestlage, die sie entsprechend ausbauen ließen, ebenfalls meist unter großer Achtung der mittelalterlichen Bauteile. Die Rheinromantik wurde für die neuen Besitzer so zum ganz realen, begehbaren Traum, der zugleich auch noch als patriotische Tat gewürdigt wurde. Und so verwandelten sich die meisten Ruinen des Rheintales wieder in Herrschaftssitze, meist in prächtigerer Gestalt als zuvor, und wurden zu Mittelpunkten des gesellschaftlichen Lebens.

Auftakt oder Ende einer Mittelrheinreise bildete das Siebengebirge, dessen vulkanische Kegel gegenüber Bonn markant in den Himmel ragen. Auch sie waren einst burgenbekrönt. Am bekanntesten ist der sagenumwobene Drachenfels oberhalb von Rhöndorf, touristisch erschlossen durch die älteste Zahnradbahn Deutschlands und den Transport auf Eseln.

 

Charles Bernhoeft, 1895: 'Ruine Drachenfels'.

Charles Bernhoeft, 1895: 'Ruine Drachenfels'.

 

Auf einem Esel am Drachenfels, 1960.

Auf einem Esel am Drachenfels, 1960.

 

1816 besuchte Lord Byron auf seiner Rheinreise nach Genf unter anderem den Drachenfels, den er in einem Gedicht verewigte. Auch den weiteren Stationen entlang des Flusses setzte er lyrische Denkmäler, die er in seinem äußerst populären Werk Childe Harold’s Pilgrimage veröffentlichte. Unzählige Engländer machten sich daraufhin an den romantischen Mittelrhein auf, um seinen Spuren zu folgen. 1819 zogen Studenten der Bonner Universität zur Burgruine hinauf, um der Völkerschlacht von Leipzig zu gedenken. Darunter war auch Heinrich Heine, der das Geschehen in seinem Gedicht »Die Nacht auf dem Drachenfels« mit gewohnter Ironie festhielt. 1829 befahl König Friedrich Wilhelm III. von Preußen den Ankauf der Ruine samt Felsen durch den Staat, um die Anlage vor der weiteren Ausbeutung als Steinbruch zu schützen. Als ab 1827 dank der Kölner Dampfschifffahrtsgesellschaft eine Anreise zu Wasser möglich machte und 1844 die Bahnlinie der Bonn-Cölner Eisenbahn eröffnet wurde, verstärkte sich der Besucheransturm weiter.

 

Charles Bernhoeft, 1895: 'Königswinter'.

Charles Bernhoeft, 1895: 'Königswinter'.

 

Auf der gegenüberliegenden Rheinseite bildete Burg Rolandseck eine weitere wichtige Station der Rheinromantik-Touristen, angezogen durch die Sage einer tragischen mittelalterlichen Liebesgeschichte, die sich hier zugetragen haben soll. Roland zog einst mit Karl dem Großen nach Spanien, um das Jakobus-Grab in Compostela von den Mauren zu befreien. Als seine Verlobte vom vermeintlichen Schlachtentod ihres Geliebten erfuhr, zog sie sich ins Kloster Nonnenwerth auf einer Rheininsel zurück. Roland kehrte aber lebend zurück und ließ oberhalb des Klosters Burg Rolandseck erbauten, damit er wenigstens täglich seine einstige Verlobte von oben im Kreuzgang sehen konnte. Ein Bogen der mittelalterlichen Burgruine wurde den Touristen als jenes Fenster gezeigt, von dem aus der traurige Ritter hinabblickte. 1839 stürzte dieser sogenannte Rolandsbogen ein, woraufhin der romantische Schriftsteller Ferdinand Freiligrath in der Kölnischen Zeitung einen höchst erfolgreichen Spendenaufruf zum Wiederaufbau veröffentlichte. Schon 1840 konnte der Rolandsbogen als Wahrzeichen des Unteren Mittelrheintales vom Kölner Dombaumeister Ernst Friedrich Zwirner neu errichtet werden. Allerdings drehte er ihn so, dass nun wie in einem efeuumrankten Bilderrahmen aus Stein der Drachenfels samt Siebengebirge darin erscheint. Zur bequemen Anreise entstand eigens der als große Ausflugsgaststätte angelegte Bahnhof Rolandseck zu Füßen der Burg.

 

Charles Bernhoeft, 1895: 'Rolandsbogen'.

Charles Bernhoeft, 1895: 'Rolandsbogen'.

 

Als einmalige deutsche Kulturlandschaft würdigte die UNESCO zumindest das Obere Mittelrheintal zwischen Bingen und Koblenz, das sie 2002 in den Rang eines Weltkulturerbes erhob. Der anhaltende Boom der Flusskreuzfahrten wie auch der höchst populäre Premiumwanderweg Rheinsteig erschließen diese Flusslandschaft auf ganz besondere Weise. Auch wenn sich natürlich durch den Bau der beiden Bundesstraßen und Eisenbahnlinien an beiden Ufern sowie in den ausgedehnten Neubaugebieten der Städte und Dörfer seit dem Beginn der Rheinromantik vieles verändert hat, gehört ein Besuch des Mittelrheintales immer noch zu den eindrucksvollsten Gesamterlebnisse aus Natur und Kultur, die Deutschland zu bieten hat.

 

Dr. Jürgen Kaiser (geb. 1967) studierte in Marburg und Köln Kunstgeschichte, Mittelalterliche Geschichte und Provinzialrömische Archäologie. Er lebt in Köln als Sachbuchautor und Kulturreiseleiter. Gemeinsam mit dem Fotografen Florian Monheim veröffentlichte er im Greven Verlag Köln zahlreiche Bücher, zuletzt 2019 Macht und Herrlichkeit – die großen Kathedralen am Rhein von Konstanz bis Köln.