Themenwelt

Reliquienkult im Rheinland

Knochen mit Strahlkraft

von Jürgen Kaiser

 

Menschliche Gerippe erwarten wir heutzutage nur noch beim Besuch der Geisterbahn und dann bitte auch nur in der Plastikvariante. Überhaupt verbannen wir alles, was auch nur ansatzweise mit dem Tod und insofern mit der eigenen Vergänglichkeit zu tun hat, weit aus unserem Umfeld. Umso ratloser stehen wir dann vor jenen menschlichen Schädeln oder Knochen, die uns in manchen katholischen Kirchen als Reliquien präsentiert werden. Zwar bewundern wir deren kostbare Verpackung mit Gold, Silber und Edelsteinen als Zeugnisse qualitätsvoller Goldschmiedekunst, doch erscheint uns der ganze Aufwand nur noch makaber. Dabei gehört der Reliquienkult zu den elementaren Bestandteilen des christlichen Mittelalters. Der körperliche oder visuelle Kontakt mit den Gebeinen von Heiligen bot den Menschen damals die Gewissheit, himmlische Helfer für ihre alltäglichen Nöte zu gewinnen. Gleich den Göttern der Antike waren sie zumeist spezialisiert auf bestimmte Krankheiten oder Probleme, für die das Diesseits keine Lösung bot.

 

Bornheim-Walberberg, Kirche St. Walburgis: Schädelreliquie der Heiligen Walburga.

 

Nicht skeptischer, distanzierter Abstand, der bei den meisten heutigen Betrachtern zu beobachten ist, sondern größtmögliche räumliche Nähe war im Mittelalter bei Reliquien gefragt. Denn der ganze Kult um die kostbaren Gebeine beruhte auf der Annahme, dass diese Heiligen dank ihrer Verdienste unmittelbar nach ihrem Tod schon in den Himmel aufgenommen wurden und dort eine Art himmlischen Hofstaat rund um den Thron Gottes bildeten. Doch blieben sie weiterhin bis zur Vereinigung beim Jüngsten Gericht und der körperlichen Auferstehung in Kontakt mit ihren Skeletten auf Erden. Und so glaubte man, dass jene Gebete, die im Angesicht dieser Knochen gesprochen wurden, auf direktem Weg nach oben gelangten – gleichsam über eine Art rotes Telefon in den Himmel.

 

Füssenich, Stiftskirche: Reliquienschädel im Chor.

 

Zudem waren die Gläubigen überzeugt, der jeweilige Heilige sehe die Mühen, welche die oft von weither angereisten Pilger auf sich genommen hatten, und so hofften sie auf eine entsprechende Gegenleistung. Dass Wallfahrten zu attraktiven Reliquien bedeutende Einnahmequellen der ausstellenden Kirchen und Klöster waren, spielte ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle bei der oft wundersamen Reliquienvermehrung. Denn die Echtheit der verehrten Gebeine erwies sich allein durch Wunder wie Krankenheilungen, die erst ein Pilgerziel entstehen ließen. Um den Gläubigen die besondere Aura der Reliquien vor Augen zu führen, wurden sie nicht nur kostbar verpackt, sondern mittels Prozessionen und effektvollen Heiligtumsweisungen regelrecht inszeniert.

Die Reformation des 16. Jahrhunderts wie auch die Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts wollten den gesamten Reliquienkult als wenig frommen Schwindel entlarvt sehen und lehnten ihn daher völlig ab. Doch gab es auch starke Gegenbewegungen – etwa durch die Jesuiten mit ihrer barocken Inszenierungsfreude oder in der Verbindung aus wiedererstarkter katholischer Kirche und Romantik in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Wer auf den Spuren des mittelalterlichen Reliquienkultes wandeln will, der ist im Rheinland bestens aufgehoben, wirkte sich dort die Reformation doch nur wenig aus. An wenigen Beispielen lässt sich auch gerade dort aufzeigen, wie sich dabei Geschichte, Kult und Wirtschaftsinteressen eng verzahnen; so ergibt sich ein ganz spezieller Einblick in die Vorstellungwelt des Mittelalters.

Rein mengenmäßig ist der Kölner Kult um die Elftausend Jungfrauen nicht zu überbieten. Ein Besuch in der »Goldenen Kammer«, dem exklusiven Reliquienraum der Kirche St. Ursula, bietet das wohl überwältigendste Erlebnis einer Gebeineschau nördlich der Alpen. Die oberen Wände der Kapelle sind vollständig mit menschlichen Knochen bedeckt, die teils Ornamente, teils Schriftbänder bilden. Darunter stehen in Nischen Holzbüsten lächelnder Jungfrauen, deren Maßwerköffnung auf Bauchhöhe einen Blick auf darin geborgene Gebeine ermöglicht. Sogar die Köpfe dieser besonderen Büsten sind aufklappbar, damit auch der darin befindliche Schädel betrachtet und verehrt werden konnte.

 

Köln, St. Ursula: Goldene Kammern mit Reliquienbehältern nach der Restaurierung.

 

Köln, St. Ursula: Reliquienbehälter nach der Restaurierung.

 

Spätgotische Bildtafeln im Chorraum der Kirche schildern wie in einem Comic ausführlich die Legende der britannischen Königstochter Ursula, die sich angeblich mit elftausend Gefährtinnen zu einer Pilgerreise nach Rom aufmachte. Auf der Rückreise wurden alle vor den Mauern Kölns von den Hunnen, die in dieser Zeit die Stadt belagerten, ermordet. Diese Schilderung wie auch die unglaubliche Anzahl dieser Märtyrerinnen bestätigte sich im Mittelalter scheinbar durch die Funde Tausender Skelette im engeren und weiteren Umfeld der Kirche. Heute weiß man, dass damals der nördliche Friedhof des antiken Köln ausgegraben wurde, auf dem knapp 500 Jahre lang die römische Bevölkerung ihre Toten bestattet hatte. Dass man dort auch Männer- und Kindergebeine fand, integrierte man geschickt in die immer weiter ausgeschmückte Heiligenlegende. Lateinische Grabinschriften ignorierten die mit der Ausgrabung beauftragten Mönche der Abtei in Deutz geflissentlich, profitierten doch alle erheblich von dem Sensationsfund.

 

Köln, St. Ursula: Ursulas Ankunft in Köln.

 

Nicht nur die Goldene Kammer, die ganze Ursulakirche erscheint wie ein einziges großes Reliquiar aus Stein und Glas. Der gotische Hochaltar ist ganz auf den Pilgerbetrieb angelegt, ermöglicht doch eine säulengestützte Konstruktion, dass die Wallfahrer ehrfurchtsvoll unter den darüber aufgestellten Reliquienschreinen der heiligen Ursula und ihres Bräutigams Aetherius hindurchziehen konnten. Dadurch fiel das Heil der Heiligen, ihre ganz spezielle Aura, gleichsam auf die Pilger herab.

 

Köln, St. Ursula: Reliquienaltar.

 

Der Kölner Kult der Elftausend Jungfrauen verbreitete sich über ganz Europa, verschenkte das Damenstift St. Ursula aus seinem überquellenden Knochenfundus doch gleich komplette Skelette an hochadelige oder klerikale Besucher, während andere Pilgerorte maximal ein Knochensplitterchen ihres Heiligen zögernd herausgaben. Nicht nur das St.-Ursula-Stift, sondern vor allem die mittelalterliche Fernhandelsstadt Köln zog großen materiellen wie immateriellen Gewinn aus diesem einzigartigen Reliquienfund – modern gesprochen ein Alleinstellungsmerkmal der rheinischen Metropole.

 

Köln, St. Ursula: Prozession mit Ursula-Schrein am 24.10.1995.

 

Der überbordende und höchst einträgliche Ursulakult beflügelte alle Kölner Kirchen, Klöster und Stifte, eigene attraktive Reliquienschätze anzulegen, damit Pilger mit ihren Gaben auch dorthin strömten. Nach der Säkularisation 1802 verschwand ein Großteil dieser Kölner Kirchenlandschaft samt ihren Schätzen. Doch unweit von St. Ursula bietet der Dom mit den Gebeinen der Heiligen Drei Könige auch in der Gegenwart einen Anziehungspunkt der besonderen Art – zumal sich diese drei Skelette bis heute im größten und prachtvollsten Reliquienschrein befinden, der sich aus dem Mittelalter überhaupt erhalten hat.

 

Köln, Dom: Giebelseite des Dreikönigenschreins.

 

Blättert man im Neuen Testament, dann findet sich darin einzig beim Evangelisten Matthäus die Erwähnung von Weisen aus dem Morgenland, die einem Stern zur Krippe gefolgt sind, wo sie ihre Gaben niederlegten. Aus der Kostbarkeit der Geschenke schloss man, dass dies nur Königen möglich gewesen wäre. Die Zahl 3 ergab sich dann aus den drei erwähnten Geschenken, während die Namen Caspar, Melchior und Balthasar völlig der mittelalterlichen Fantasie entsprangen.

Erzbischof Rainald von Dassel brachte die Reliquien 1164 als Kriegsbeute aus dem eroberten Mailand nach Köln. Damit machte er zwar seine Kathedrale zu einem europäischen Pilgerziel erster Güte. Doch seine vorrangige Absicht war eine ganz andere: Denn er versuchte, mit diesen drei Skeletten knallharte Machtpolitik zu betreiben, befand sich sein Dienstherr Kaiser Friedrich I. Barbarossa doch mit dem Papst im Dauerkonflikt darüber, wer über wem stünde. Aus Sicht des findigen Erzbischofs verdeutlichten die Heiligen Drei Könige, dass diese Herrscher wie auch sein Kaiser direkt von Gott und damit ohne Vermittlung durch den Papst legitimiert wurden. Doch dieser Propagandatrick zahlte sich letztendlich nicht aus, musste sich doch Barbarossa 1177 schließlich endgültig dem Papst unterwerfen.

 

Köln, Dom: Dreikönigenschrein.

 

Ursprünglich stand der Dreikönigenschrein in der Scheitelkapelle des Chorumgangs, durch den große Pilgermengen im Einbahnsystem an ihm vorbeigeführt werden konnten. Die Stirnplatte des Schreins war tagsüber teilweise abgenommen, sodass die Gläubigen auf drei gekrönte Schädel blickten, die hinter einem schützenden Gitter sichtbar wurden. Wallfahrtsbildchen, Pilgerzeichen oder Rosenkränze konnten dann an diese Schädel gehalten werden, damit das Heil der Heiligen auf diese Andenken überging. Da die Heiligen Drei Könige angeblich weit und auf wundersame Weise vom Morgenland nach Bethlehem gepilgert waren, wurden sie zu Reisepatronen, die Schutz vor den vielfältigen Gefahren unterwegs boten.

 

Köln, Dom: Besucher:innen vor dem Dreikönigenschrein im März 1982.

 

Eine weitere Reliquie, das Haupt der heiligen Anna, gelangte ebenfalls auf nicht ganz einvernehmliche Weise ins Rheinland – doch nicht als spektakuläre Kriegsbeute wie die Gebeine der Heiligen Drei Könige, sondern als schnöder Diebstahl eines einfachen Handwerkers. Aber auch dieser etwas forcierte Ortswechsel einer Reliquie hatte erhebliche Auswirkungen: Denn dadurch stieg im frühen 16. Jahrhundert die beschauliche Kleinstadt Düren für wenige Jahrzehnte zur einer der bedeutendsten deutschen Wallfahrtsstätten auf.

Der aus Kornelimünster bei Aachen stammende Steinmetz Leonhard arbeitete einige Zeit für das Mainzer Stift St. Stephan. Als er am 29. November 1500 die Stadt verließ, befand sich in seinem Gepäck die Reliquienbüste der heiligen Anna, die er den Stiftsherren gestohlen hatte. Seine recht fadenscheinige Begründung, die in den späteren Prozessakten festgehalten worden war, lautete, ihm sei zu wenig Lohn gezahlt worden. Daheim in Kornelimünster brachte ihn seine Mutter dazu, die Reliquie dem Abt der dortigen Benediktinerabtei zu übergeben. Dieser hätte gerne mit dem Annahaupt den Reliquienschatz seiner Abtei prestigeträchtig erweitert, befand sich doch zu dieser Zeit die Verehrung der Mutter Mariens auf einem absoluten Höhepunkt. Doch die Mainzer Stiftsherren waren nicht untätig geblieben, hatten sich an die Fersen des Diebes geheftet und verlangten vehement die Herausgabe ihres Besitzes.

 

Düren, St. Anna: Annahaupt.

 

Als Ort der Übergabe war Düren vorgesehen, wo sich die Ankunft dieser spektakulären Reliquie wie ein Lauffeuer verbreitete. Bürger wie Landesherr erkannten das ungeheure Potenzial des Annahauptes für Düren bei einem dauerhaften Verbleib in der Stadt. In ihren Augen stimmte die Heilige diesem Ansinnen offensichtlich zu, da sie sich nicht dagegen wehrte. Herzog Wilhelm IV. von Jülich aktivierte seine politischen Kontakte. Doch letztendlich brachten vor allem seine finanziellen Zuwendungen den ewig in Geldnöten steckenden Papst Julius II. 1506 dazu, den Diebstahl samt Verbleib in Düren zu sanktionieren. Besonders in den Jahren der Aachener Heiligtumsfahrt strömten Zehntausende Pilger nach Düren und belebten die städtische Wirtschaft entsprechend. Das Kalkül von Stadt und Herzog war aufgegangen. Dem Steinmetz Leonhard erwies man sich dahingehend dankbar, dass er bei der Erweiterung der Stadt- und nun auch Wallfahrtskirche Arbeit fand.

 

Düren, St. Anna: Innenansicht. Historische Postkarte, geschrieben am 10. Januar 1951.

 

Den verheerenden Bombenangriff am 16. November 1944, dem die gesamte Stadt Düren mit Hunderten ihrer Bewohner zum Opfer fiel, überstand die Reliquienbüste eingemauert am Fuß eines Treppenturmes der völlig zerstörten Annakirche. Mutig entschied man sich nicht zu einem rekonstruierenden Wiederaufbau. Stattdessen durfte Rudolf Schwarz 1955/56 in Düren einen bahnbrechenden modernen Kirchenbau errichten, dessen Seitenschiff nun für die Annenverehrung vorgesehen ist.

 

Düren, St. Anna: Schrein der heiligen Anna im Seitenschiff.

 

Reliquien mussten aber nicht zwangsläufig menschliche Gebeine sein. Auch Kleidung oder Gegenstände, die der jeweilige Heilige benutzt hatte, konnten als sogenannte Berührungsreliquien entsprechend verehrt werden. Die hochrangigsten Heiligtümer dieser Kategorie waren natürlich Gewänder Jesu oder seiner Mutter Maria. Denn beide hatten ja gemäß dem christlichen Glauben unmittelbar nach ihrem Tod schon die leibliche Auferstehung erfahren, sodass es keine Körperreliquien von ihnen gegen konnte. Und so gelangte das Gewand Christi nach Trier, angeblich schon durch die heilige Kaiserin Helena im frühen 4. Jahrhundert. Auch Karl der Große erhielt wohl vom Patriarchen in Jerusalem für Aachen entsprechende Textilien Christi und Mariens.

Der Vater Karls des Großen, Pippin der Jüngere, hatte 752 vom Papst für seine Klostergründung Prüm in der Eifel Reliquien erhalten, bei denen es sich angeblich um die Sandalen Christi handelte. Dieses besondere Geschenk wurde Pippin allerdings erst als Gegenleistung für umfangreiche Landschenkungen an Papst Zacharias zuteil, die die Grundlage des späteren Kirchenstaates bildeten – hatte der Papst doch den Staatsstreich Pippins und die Entmachtung der Merowinger abgesegnet, wodurch die Dynastie der Karolinger an die Macht kam. Pippins Sohn Karl der Große errichtete in Prüm für die Mönche der Abtei die sogenannte Goldene Kirche, die aufgrund ihrer besonderen Pracht diesen Beinamen erhielt. Leider blieb im heutigen barocken Neubau davon nichts erhalten, außer natürlich der Sandalen-Reliquie, die durch alle Kriegszeiten gerettet werden konnte. Wer Gelegenheit hat, das neuromanische Reliquiar im Chor im aufgeklappten Zustand zu sehen, blickt auf zwei kostbar bestickte karolingische Herrscherpantoffeln, in die einige Reste antiker Ledersandalen aus dem Heiligen Land eingearbeitet sind. Da Prüm auf dem rheinischen Pilgerweg nach Santiago de Compostela liegt, erfährt diese Schuhreliquie neue Verehrung, treten die Pilger auf ihrer Fernwallfahrt doch auch in die Fußstapfen Christi und seiner Heiligen.

 

Prüm, Abteikirche Sankt-Salvator-Basilika: Schrein für die Sandalen Christi.

 

Prüm, Abteikirche Sankt-Salvator-Basilika: Schreinalter für Sandalen Christi im Detail.

 

Dr. Jürgen Kaiser (geb. 1967) studierte in Marburg und Köln Kunstgeschichte, Mittelalterliche Geschichte und Provinzialrömische Archäologie. Er lebt in Köln als Sachbuchautor und Kulturreiseleiter. Gemeinsam mit dem Fotografen Florian Monheim veröffentlichte er im Greven Verlag Köln zahlreiche Bücher, zuletzt 2019 Macht und Herrlichkeit – die großen Kathedralen am Rhein von Konstanz bis Köln.