Themenwelt
Reformkloster, Reichsabtei und Wallfahrtsziel: Kornelimünster
von Jürgen Kaiser
Unweit von Aachen bietet der kleine Ort Kornelimünster im Tal der Inde noch einen überraschend geschlossenen Bestand an Häusern des 17. und 18. Jahrhunderts. Aus Blau- und Backsteinen errichtet, rahmen sie in respektvoller Entfernung die ehemalige Benediktinerabteikirche. Die beschauliche Atmosphäre lässt kaum ahnen, dass sich hier zu den Wallfahrtstagen im Spätmittelalter einst zehntausende Pilger drängten, um ganz besondere Reliquien zu verehren.
Kornelimünster, Häuser am Markt
Kornelimünster, historischer Ortskern im Winter
Schon in römischer Zeit befand sich oberhalb des späteren Klosters eine bedeutende Kultstätte. 814/17 gründete Kaiser Ludwig der Fromme, Sohn und Nachfolger Karls des Großen, im engen Talgrund eine Benediktinerabtei. Zum ersten Abt berief er Benedikt von Aniane, den Ludwig schon aus seiner Zeit als Unterkönig in Südfrankreich kannte und schätzte. Denn der Kaiser plante in Kornelimünster nichts Geringeres als ein benediktinisches Musterkloster, dessen Regeln, Organisation und Liturgie im gesamten Karolingerreich vorbildhaft werden sollten. Ludwig war vom Erfolg seiner Gründung so überzeugt, dass er sogar plante, sich hier einst mit seiner Gemahlin begraben zu lassen. Doch sollte es dazu nicht mehr kommen. Benedikt von Aniane verstarb schon 821 und auch Ludwig verlor im Zuge der dauernden Machtkämpfe mit seinen Söhnen das Interesse an der Abtei.
Gemälde Benedikt von Aniane und Karl der Große
Immerhin hatte Ludwig schon zu Beginn der Klostergründung aus dem Aachener Heiligtumsschatz seines Vaters wertvolle Stoffreliquien abgezweigt, die Kornelimünsters Bedeutung für Jahrhunderte sichern sollten. Zudem garantierten sie der Abtei bis zur ihrer Auflösung 1802 hochwillkommene Einnahmen aus dem Pilgerbetrieb. Diese drei großen, antiken Textilien galten als das Schürztuch, das sich Jesus bei der Fußwaschung vor dem letzten Abendmahl umgelegt hatte, das Grabtuch, auf das man seinen toten Körper nach der Abnahme vom Kreuz gelegt hatte, und schließlich als das Schweißtuch, das über seinem Gesicht im Grab lag. Während die ersten beiden Berührungsreliquien aus Leinen bestehen, ist das Schweißtuch von einzigartiger Kostbarkeit: Denn das 4 × 6 Meter große, hauchdünne Gewebe besteht aus seidenartigen Muschelfäden! Den dunklen Ölfleck auf dem Schürztuch erklärten sich Pilger als Fußabdruck des Judas. Im Gegensatz zum Aachener Münster ließ die Abtei keinen kostbaren Reliquienschrein zur würdigen Aufbewahrung anfertigen, sondern begnügte sich mit einer massiv gesicherten Eichenholztruhe.
Mittelalterliche Holzkiste mit eisernen Beschlägen
875 tauschte der Sohn Ludwigs des Frommen, Karl der Kahle, der das Westfrankenreich geerbt hatte, für seine Pfalzkapelle in Compiègne den Schädel des Märtyrerpapstes Kornelius gegen das halbe Grabtuch aus Kornelimünster ein. Diese neue Reliquie entwickelte rasch eine enorme Popularität, sodass sich die Abtei schließlich nach diesem Heiligen umbenannte. Sein Erkennungszeichen wurde schließlich ein Büffelhorn, steckte doch das lateinische Wort cornu für Horn in seinem Namen. Damit stieg er im landwirtschaftlich geprägten Umland zum Patron des Hornviehs auf. Bis heute wird rund um seinen Todestag am 16. September eine ganze Festwoche gefeiert, die sogenannte Korneliusoktav. Dann ist auch die wertvolle Reliquienbüste mit der dreifachen, überreich mit Edelsteinen und Kameen geschmückten Papstkrone zu sehen. Aus dem Büffelhorn mit Reliquie reichte man den Pilgern ursprünglich Wein, der ihnen – ebenso wie der Verzehr geweihter Korneliusbrötchen – den Beistand des Heiligen sichern sollte.
Korneliuskapelle, Reliquienbüste des heiligen Kornelius, 14. Jahrhundert
Korneliuskapelle, Reliquienbehälter in Form eine Trinkhorns
Im Spätmittelalter erreichte der Reliquienkult samt Wallfahrtswesen seinen Höhepunkt. Um die an bestimmten Tagen herbeiströmenden Pilgermassen zu fassen, ließen die Mönche ihre Abteikirche immer wieder entsprechend erweitern. In ihrer endgültigen Gestalt ist sie wie kein zweiter Sakralbau des Rheinlandes ganz auf den Pilgerbetrieb ausgerichtet. Von der romanischen Basilika blieben bis heute die Mittelschiffpfeiler erhalten. 1310 entstand der weite, gotische Chorraum, errichtet von Steinmetzen der Kölner Dombauhütte, wie das Maßwerk der Fenster zeigt.
Aus dieser Zeit blieb auch noch das Chorgestühl der Mönche aus Eichenholz erhalten, das ebenfalls unter Kölner Einfluss entstand. Es ist eines der ältesten Beispiele seiner Art im Rheinland. Sehr interessant und qualitätsvoll sind die variationsreichen Maßwerkformen der Gestühlswangen. Fantasievoller figürlicher Schmuck findet sich nur an den Konsolen der Klappsitze.
Kornelimünster, Propsteikirche St. Kornelius
Chorgestühl, Miserikordie mit Blattmaske
Um 1460 schuf vermutlich der Kölner Dombaumeister Konrad Kuyn im Auftrag des Abtes Heribert von Lülsdorf die spätgotische Steinfigur des heiligen Kornelius im Chor. Zu dessen Füßen ließ sich der Stifter samt einem Pilgerpaar darstellen.
Steinerne Korneliusfigur im Chor nach der Restaurierung 2012
Steinerne Korneliusfigur im Chor, Konsole mit Bischof und Engeln nach der Restaurierung 2012
Abt Heribert beschloss auch, das südliche Seitenschiff durch einen zweischiffigen Neubau zu ersetzen. So konnten die Pilgermassen, die durch das im Süden liegende Hauptportal in die Kirche strömten, im Einbahnsystem um die Reliquien geführt werden, die vor den Rundpfeilern aufgestellt waren. Ein spätgotischer Altar erinnert in diesem Pilgerschiff genannten Kirchenteil daran, dass hier 1501 für kurze Zeit die in Mainz von einem Steinmetzen aus Kornelimünster gestohlene Schädelreliquie der heiligen Anna, Mutter Mariens, aufbewahrt und verehrt wurde, bevor sie endgültig nach Düren gelangte.
Südliches Seitenschiff, Blick nach Osten
Annenaltar im südlichen Nebenchor, Detail Maria und Anna
Abt Heinrich von Binsfeld errichtete anstelle des romanischen nördlichen Seitenschiffes eine Sakristei samt darüberliegender Reliquienkapelle. Dort konnten die kostbaren Stoffreliquien und vergoldeten Reliquiare feuer- und diebstahlsicher hinter dicken Eichentüren mit schweren Schlössern verwahrt werden. Diese Reliquienkapelle besitzt ein hoch liegendes Fenster, das auf das nördliche Seitenschiff geht. Denn der Abt verfügte für die Reliquien über ein Recht zur Sonderzeigung außerhalb der regulären Wallfahrtstage. Kamen also prominente und entsprechend zahlungskräftige hochadelige Besucher nach Kornelimünster, dann konnten sie auf der Westempore des nördlichen Seitenschiffes Platz nehmen und sich exklusiv die Stoffe und Gebeine aus diesem Fenster vorführen lassen. Entsprechende Gegengaben in die Privatkasse des Abtes waren dann natürlich Pflicht.
Nördliches Seitenschiff, Kreuzigung in Grisaillemalerei und Zeigefenster
Nördliches Seitenschiff, Abtloge gegenüber der Heiligtumskammer
Die hoch gelegene Reliquienkapelle hatte auch einen Zugang zu den hölzernen Galerien, die am Dachansatz die Ostteile der Abteikirche umlaufen. Nach dem Vorbild des Aachener Münsters konnten die Kostbarkeiten so auch einer größeren Menge weit sichtbar gezeigt werden. Es gibt eine eindrucksvolle Schilderung dieses Vorgangs durch den Metzer Adeligen Philipp von Vigneulles aus dem Jahr 1510. Darin beschreibt er, wie er nach der Aachener Heiligtumsfahrt mit seinem Pferd schnell nach Kornelimünster ritt, um gerade noch die feierliche Reliquienpräsentation von der Dachgalerie mitzuerleben. Die Kleriker entrollten dort oben die großen Textilien, sodass alle sie sehen konnten. Doch zuerst wurde die Büste des heiligen Kornelius gezeigt. Da sich tausende Pilger rund um die Kirche drängten, beobachtete er das Geschehen vom gegenüberliegenden Hang aus. Wie in Aachen stießen viele Wallfahrer in ihre vor Ort erworbenen Tonhörner, um den Himmel und seine Heiligen auf sich aufmerksam zu machen. Anschließend drängte sich Philipp noch in die Kirche, wo weitere Reliquien aufgestellt waren, bevor er, wie die ganze Menschenmasse, nach Düren weiterzog, um dort am nächsten Morgen das Haupt der heiligen Anna zu sehen und zu verehren.
Blick von Nordosten auf die Galerien der nördlichen Seitenschiffe
Als letzte Baumaßnahme entstand zu Beginn des 18. Jahrhunderts östlich im Anschluss an den gotischen Chor die barocke Korneliuskapelle. Ihre hohe, achteckige Form bezieht sich in vereinfachter Form auf das Vorbild der Aachener Pfalzkapelle. Die Kuppellaterne bekrönt eine vergoldete Statue des heiligen Kornelius in seinen päpstlichen Pontifikalgewändern. Seit Errichtung dieser Kapelle findet dort während der Korneliusoktav die Reliquienzeigung statt, hatte sich doch der Pilgerandrang nach dem Ende des Mittelalters deutlich reduziert.
Korneliuskapelle, Aufblick in das Oktogon
In der Barockzeit entstanden auch die Klostergebäude vollständig neu in zeitgemäßen Formen. Die dreiflügelige Anlage gleicht eher einem Schloss als einem Kloster. Schließlich war Kornelimünster eine Reichsabtei, wodurch sie keinem Landesherrn unterstand, sondern unter dem Schutz des Kaisers selbst einen unabhängigen kleinen geistlichen Staat bildete. Dieses »Münsterländchen« regierten die Äbte erfolgreich bis 1802. Damals gehörte das gesamte Rheinland bis zum Rhein als Folge der französischen Revolutionskriege zu Frankreich. Und so wurde auf staatlichen Beschluss wie alle Klöster auch Kornelimünster aufgelöst und enteignet, die Mönche wurden vertrieben. Heute zeigt das Land Nordrhein-Westfalen in den barocken Abteiräumen seine Sammlung moderner Kunst sowie Ausstellungen junger Künstler des Landes und benachbarter Grenzregionen.
Saal im Obergeschoß mit Installationen
Von den mittelalterlichen Klostergebäuden blieb allein das wehrhafte Abteitor erhalten. Es entstand nach dem Vorbild der Aachener Stadttore. Sein herber Charakter wurde in der Barockzeit durch das davorgesetzte wappengeschmückte Portal samt seitlichen Türmchen mit geschwungenen Schieferhauben etwas gemildert. Ausgrabungen brachten darunter Überreste einer römischen Fernstraße zutage, die hier einst das Tal der Inde durchquerte.
Ehemalige Reichsabtei Kornelimünster, Altes Abteitor
Über einhundert Jahre, nachdem das Klosterleben im Tal der Inde geendet hatte, entstand 1906 an anderer Stelle außerhalb des Ortes eine benediktinische Neugründung. Mönche aus der niederländischen Abtei Merkelbeek, die während des Kulturkampfes unter Reichskanzler Bismarck als deutsches Ausweichkloster entstanden war, wagten in Kornelimünster den Neubeginn. Kirche und Klostergebäude entstanden in den 1950er-Jahren in zeitgemäßen, schlichten Formen. Gerade der Vergleich der historischen mit der modernen Abteikirche ist besonders reizvoll.
Blick von der Breiniger Straße zum neuen Benediktinerkloster

Über den Autor
Dr. Jürgen Kaiser (geb. 1967) studierte in Marburg und Köln Kunstgeschichte, Mittelalterliche Geschichte und Provinzialrömische Archäologie. Er lebt in Köln als Sachbuchautor und Kulturreiseleiter. Gemeinsam mit dem Fotografen Florian Monheim veröffentlichte er im Greven Verlag Köln zahlreiche Bücher, zuletzt 2019 Macht und Herrlichkeit – die großen Kathedralen am Rhein von Konstanz bis Köln.
























