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Radikaler Wiederaufbau in Düren
Nachdem nichts mehr geblieben war
von Jürgen Kaiser
Wer heute Dürens Innenstadt besucht, geht vor allem an Häusern der 1950er- und 1960er-Jahre vorbei – ganz so, als gehörte auch Düren zu jenen Orten, die dem nahen Braunkohletagebau weichen und an anderer Stelle neu gebaut werden mussten.
Doch das moderne Gesicht dieser rheinischen Kleinstadt ist die Folge eines einzigen Nachmittags: Am 16. November 1944 setzte die im Verbund mit der US-Armee agierende Royal Air Force im Rahmen der Aktion »Operation Queen« die unglaubliche Zahl von 498 Kampfflugzeugen ein, um in nur 21 Minuten Düren fast vollständig auszulöschen. Tausende von Spreng- und Brandbomben lösten ein Inferno aus, dem nicht nur über 3000 Menschen zum Opfer fielen, sondern auch alle Gebäude der Innenstadt. Mit 99 Prozent Zerstörungsgrad bietet Düren den traurigen Rekord der am vollständigsten zerbombten und ausgebrannten deutschen Stadt. Luftaufnahmen der US-Armee zeigen das ganze Ausmaß einer fast völlig eingeebneten, mit endlosen Bombenkratern zerfurchten ehemaligen Stadtfläche.
Ziel der »Operation Queen«, bei der auch Heinsberg und Jülich zerstört wurden, war es, den US-Bodentruppen den Vormarsch zum Rhein noch vor Einbruch des Winters zu ermöglichen. Denn durch den unerwartet zähen Widerstand der Wehrmacht im Hürtgenwald war der Zeitplan ins Stocken geraten. Doch letztendlich war die Zerstörung Dürens sinnlos, da die deutschen Kampflinien, die einige Kilometer weiter westlich lagen, davon unberührt blieben.
Vor Kriegsbeginn lebten 45 000 Menschen in der Stadt, von denen ein Großteil auch bald wieder zurückkehren wollte. Und so begann Anfang 1946 zunächst die Entschuttung, wobei die gewaltige Menge von 1,6 Millionen Tonnen Trümmern entfernt werden musste. In mühseliger Kleinarbeit sortierte man alles brauchbare Steinmaterial aus und formte aus zermahlenem Gestein neues Baumaterial für den Wiederaufbau. Was nicht verwendet werden konnte, befindet sich noch heute als beeindruckender Trümmerberg im Dürener Süden.
Gelegen in einer fruchtbaren Bördelandschaft, entwickelte sich der Ort aus einer karolingischen Königspfalz hin zu einer Reichsstadt, die aber dann unter die Herrschaft der Grafen und späteren Herzöge von Jülich kam. Ein spektakulärer Reliquiendiebstahl brachte das Haupt der heiligen Anna, der Mutter Mariens, unverhofft 1501 nach Düren. Damit begann der Aufstieg zu einem bedeutenden und einträglichen Wallfahrtsziel. Später brachten Textil- und Papierproduktion weiteren Wohlstand, was sich auch in der baulichen Gestalt der Stadt zeigte. So erstreckte sich rund um die spätgotische Annakirche eine ansehnliche Altstadt aus malerischen Plätzen, Straßen und Gassen.
Blick auf den Marktplatz mit Rathaus und der Sankt Anna Kirche.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs standen die zurückgekehrten Einwohner nun vor der gewaltigen Aufgabe des Wiederaufbaus. Pläne der Alliierten, den Neubau auf freier Fläche auszuführen, scheiterten am Wunsch der Bevölkerung Düren an alter Stelle zu belassen.
Auf schnellstem Weg musste Wohnraum in großer Zahl errichtet werden, um Tausenden von Menschen wieder ein Dach über dem Kopf zu bieten. Daher war überhaupt nicht an eine Rekonstruktion zumindest der wichtigsten Baudenkmäler der Vergangenheit zu denken, zumal deren Überreste zu gering waren. Selbst das Rathaus wurde an anderer Stelle neu errichtet. Auch die Bebauung der Straßen und Plätze fiel entsprechend schlicht und schmucklos aus, wodurch der Reiz des alten Düren endgültig verloren war.
Am schmerzhafttesten war wohl der Verzicht auf die alte Annakirche, Mitte und Herz Dürens. Immerhin konnte aus deren Trümmern das Reliquiar der heiligen Anna geborgen werden, das unter einer Wendeltreppe vorsorglich eingemauert worden war.
Annahaupt, Reliquie der heiligen Anna.
Als der bedeutende Kirchenbauarchitekt Rudolf Schwarz seine Pläne zum radikalen Neubau an alter Stelle vorstellte, reagierten nicht wenige Bürger mit Fassungslosigkeit. Der Kontrast zur alten Annakirche hätte nicht größer sein können. Alles, was von der spätgotischen Kirche bleiben sollte, war das Baumaterial, das man in der fensterlosen Nordwand wiederverwendete. Eine Sichtbetondecke sowie die wie in einem Industriebau verglaste Südwand des nüchtern-schmucklosen Baus waren weitere Zumutungen an die Bürger, die ja alle noch ihre reich geschmückte spätgotische Basilika vor Augen hatten.
Nur an winzigen Details wie Türgriffen oder Einzelreliefs am Außenbau ließ der Architekt eine Abweichung von der allgemeinen Nüchternheit zu. Auch der fast hundert Meter hohe Turm der alten Kirche, der ebenfalls vollständig zerstört worden war, fand nur als freistehender Campanile nach dem Vorbild der italienischen Moderne der 1920er-Jahre etwas später als die Kirche seine Wiederauferstehung. Immerhin bietet dort der Wechsel aus Bunt- und Basaltsteinen sowie Betonbändern dem Auge hier etwas mehr Halt als die schmucklose Kirchenaußenwand.
St. Anna: Westseite mit Glockenturm.
St. Anna: Türgriff von Ewald Mataré.
Stand in der alten Basilika das Anna-Reliquiar eindeutig im Mittelpunkt, so versetzte Rudolf Schwarz dieses nun in ein niedriges Seitenschiff ohne Fenster, aber mit Oberlichtern in der Sichtbetondecke. Denn in der neuen Kirche sollte die Funktion als Stadtpfarrkirche wieder deutlich sichtbaren Vorrang vor derjenigen als Wallfahrtskirche bekommen.
Schrein der heiligen Anna im Seitenschiff.
Der Blick der Gemeinde hin zum schlichten Altar im Osten sollte durch nichts im schmucklosen, kastenartigen Innenraum abgelenkt werden. Runde, in das Buntsandsteinmauerwerk eingesetzte Alabasterscheiben bilden dahinter ein Lebensbaummotiv als einzige abstrakte Zierde.
Wand hinter dem Altar mit Alabasterfenstern.
Heute gehört die Dürener Annakirche unbestreitbar zu den Höhepunkten im Kirchenbau der Nachkriegszeit. Nur noch alte Aufnahmen erinnern an den Vorgängerbau, an dessen Stelle der Schwarzsche Neubau errichtet wurde.
Mit Ausnahme von Zülpich, wo Karl Band anstelle der mittelalterlichen Pfarrkirche St. Peter ähnlich radikal neu baute, rekonstruierten alle anderen rheinischen Städte zumindest ihre Hauptkirche, um wenigstens so die Brücke zu ihrer Vergangenheit zu schlagen. Diese wichtigen Identifikationsbauten boten so inneren Halt in einer Zeit, die von größten persönlichen wie gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt waren. Den Dürener Bürgern blieb dies versagt.
Dr. Jürgen Kaiser (geb. 1967) studierte in Marburg und Köln Kunstgeschichte, Mittelalterliche Geschichte und Provinzialrömische Archäologie. Er lebt in Köln als Sachbuchautor und Kulturreiseleiter. Gemeinsam mit dem Fotografen Florian Monheim veröffentlichte er im Greven Verlag Köln zahlreiche Bücher, zuletzt 2019 Macht und Herrlichkeit – die großen Kathedralen am Rhein von Konstanz bis Köln.











