Themenwelt
Die Foto- und Filmautorin Christel Fomm
»Überall lauern Bilder«
von Reinhard Matz
Das Titelzitat von Christel Fomm erinnert an einen sehr bekannten Bildhauer. Der hatte behauptet, die Figur sei bereits in dem rohen Stein enthalten, er müsse nur alles Überflüssige wegschlagen. Das ist eine erstaunliche Betrachtung der eigenen Tätigkeit, die alles Eigene und Individuelle des Sehens und Gestaltens zu negieren scheint. Als müsse man die schon vorhandenen Bilder, die einem überall auflauern, nur einsammeln. Schade eigentlich, dass die lauernden Bilder so wenige Menschen überfallen. Oder ihnen wenigstens auffallen. Es bedarf wohl doch eines Talents, die allgegenwärtigen Bilder zu erkennen, aufzunehmen und zu verarbeiten.
Christel Fomm wurde 1948 als Tochter eines kaufmännischen Fabrikanten in Wuppertal geboren. Dort besuchte sie eine Nonnenschule, und als sie kurz vor der Mittleren Reife vom Lehrerkollegium gefragt wurde, was sie denn werden wolle, hatte sie eigentlich keine Ahnung und antwortete aus schierer Provokationslust: Fotografin. Die spontane Reaktion verfehlte nicht ihre Wirkung. Den Nonnen war das eine fremde Welt, in die sie ihr vermeintliches Schäfchen entlassen sollten. Und für die 16-Jährige wurde aus dem Gedankenblitz ein Ziel. Dass sie von der Münchener Staatslehranstalt für Fotografie abgelehnt wurde, hinderte sie nicht, sich an den Kölner Werkschulen zu bewerben, wo sie angenommen wurde. Tatsächlich ist Christel Fomm nicht die erste Frau, der die Fotografie zur Emanzipation aus altbackenen Verhältnissen verholfen hat. »Fotografieren hieß teilnehmen«, lautete der Titel einer großen Ausstellung im Essener Folkwangmuseum, die ausschließlich Fotografinnen der Weimarer Republik gewidmet war.
Auf dem Weg zum ersten Treffen in der Kölner Fotoklasse, im fünften Stock des Ubierrings 40, fragte die angehende Fotostudentin einen jungen Mann im Fahrstuhl, ob er auch in der Klasse von Arno Jansen anfange. Irritiert antwortete der, er sei Arno Jansen … Es lag in der Zeit Ende der 1960er-Jahre, dass Fomm wie viele Kommilitoninnen und Kommilitonen mit Lehrern nicht viel anzufangen wusste. Man diskutierte die frischen Arbeiten lieber untereinander. Zudem begann die deutsche Vergangenheit, hinterfragt zu werden, der Vietnamkrieg verschärfte die Auseinandersetzung gegenüber Autoritäten, die erste große Koalition trieb zumal junge Menschen in die außerparlamentarische Opposition. Die angehenden Fotografen und Fotografinnen wollten die Welt nicht nur dokumentieren, sondern auch verändern. Im Übrigen war das Image der Fotografie für junge Leute von Antonionis Film »Blow up« geprägt, der eine attraktive Verbindung von Mode, Libertinage, Entdeckerfreude, und sozialem Engagement entfaltete.
So begann auch Christel Fomm sich für soziale Themen zu interessieren. Und damit auch für Köln, eine Stadt, die sie zunächst nicht mochte und in die sie nur widerwillig zog, die dann aber über viele Jahre unter verschiedenen Aspekten ihr Hauptthema wurde. Vermutlich brachte sie das an der Werkschule interdisziplinär aufgerufene Thema »Severinsviertel«in die Spur. Das Viertel in der Kölner Südstadt war damals von Handwerkern und Industriearbeitern um die Stollwerck-Fabrik und die Reissdorf-Brauerei geprägt. Im weiteren Kreis herrschten bürgerliche Mehrfamilienhäuser vor, in die mit der Zeit studentische Wohngemeinschaften einzogen. Das Viertel stand vor einem Sanierungsschub und der anschließenden Gentrifizierung; viel Stoff für ästhetische, gesellschafts- und stadtpolitische Fragen … Ihre Abschlussarbeit bestritt Fomm 1973 mit einer Serie über die erste Kölner Hochhaussiedlung Bocklemünd-Mengenich; ein Novum, traditionell war für die Prüfung verlangt, die Arbeit in einem Einzelbild zu verdichten.
Christel Fomm, Hochhaussiedlung Bocklemünd-Mengenich, um 1972
Christel Fomm war es wichtig, Menschen nicht vor neutralem Hintergrund oder isoliert, sondern in ihrer Umgebung zu fotografieren. Sie interessierten die spezifischen Lebenssituationen, das Alltagshandeln, die Arbeitsverhältnisse, das Zusammentreffen der Menschen. In ihren Volkshochschulkursen vermittelte sie, »mit der Kamera sehen zu lernen«, worunter sie auch Einsichten in die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse verstand. Mit ihren Kursen fotografierte sie auf Kölner Märkten und in damals noch selten thematisierten Ausländermilieus. Die Fotografin liebt es, sich mitten unter Menschen zu begeben und durch die Kamera dennoch am Rande zu stehen. Es sind keine – wie so häufig – weh- oder mitleidigen Bilder, die bei diesen Milieustudien entstanden, sondern solche auf Augenhöhe und nicht selten mit einer kräftigen Portion Humor.
Christel Fomm, Türkische Kölner bei Einkauf auf dem Wilhelmplatz in Nippes, 1971
So entstanden verschiedene Fotoserien zu Ereignissen und Situationen in Köln: Zum Hochwasser und zum Rheinauhafen, von Kinderläden und Spielplätzen, über den Abriss der Stollwerck-Fabrik ebenso wie Bauarbeiten … Daneben entstanden Serien zum Chemiepark Knapsack, über einen Bauernhof im vom Tagebau bedrohten Hambach oder von Hafenarbeitern in Duisburg. Sie alle sind jetzt im »Greven Archiv Digital« zu besichtigen.
Christel Fomms Drang, gesellschaftliche Verhältnisse darstellen zu wollen, die den fotografischen Augenblick ja selbst in Serien übersteigen, führte sie schnell zum Dokumentarfilm. »Wenn man beim Fotografieren auf den Knopf drückt«, sagt Fomm, »ist der eigentliche Augenblick schon vorbei. Wenn man als Filmkamerafrau auf den Knopf drückt, ist der Augenblick erst da, dann geht es erst los. Dann erst entstehen die Bilder.« Mit einer frühen Videokamera auf der Schulter engagierte sie sich gegen Kölner Wohnungsspekulationen und Mietsteigerungen, die nicht alle Bewohner bezahlen konnten; Feind war der Immobiliengroßbesitzer Günter Kaußen. Anwohner wurden auf der Straße befragt und die Aufnahmen unter dem Severinstor öffentlich gezeigt. Es reizte Fomm, »mit der Filmkamera Politik zu machen«.
Bald mit einer Aaton-Filmkamera und einem Schneidetisch ausgerüstet drehte sie 1978 fürs ZDF ihren ersten Film über eine Rockergruppe, die vor Fomms Haustür in der Kölner Südstadt ihren Stammplatz hatte und von den bürgerlichen Anwohnern nicht gerade willkommen geheißen wurde. Selbst Motorradfahrerin fand sie schnell Kontakt zu der Gruppe, drehte mit der 16mm-Kamera vorm Auge vom Rücksitz, eine Hand an der Kamera, die andere auf dem Bauch des Fahrers. Später ist sie auch mal bei Tempo 130 »abgestiegen«; ein Wunder, dass sie unverletzt überlebte. Als die Polizei nach dem Fahrer fragte, weil sich keiner vorstellen konnte, dass eine Frau alleine Motorrad fuhr, antwortete sie schnippisch: »Der Fahrer ist tot.«
Christel Fomm (links) und eine Freundin mit Motorradführerschein, um 1978 (Fotograf unbekannt)
1979 schloss sich ein Porträtfilm über den Sänger Kill Eichmeier an, das letzte noch lebende Mitglied der einst stadtbekannten Straßenmusiker »Die drei Rabaue«; diesmal für den WDR, gefolgt von weiteren Filmen aus sozialen Milieus rund um das Severinsviertel. Ihr Film »Südstadt in Aspik«, 1986 mit Hanno Brühl und Heinrich Pachl realisiert, ist dann eine Art Abgesang auf das Viertel. Es sei inzwischen alles angemalt und begradigt, alle stünden auf der richtigen Seite – das sei nicht mehr spannend und ende in »einer Art Kölnbesoffenheit, da muss man aufpassen!« So widmete sich Fomm vermehrt überregionalen, auch internationalen Themen und wurde 1989 Mitgründerin der ausgesprochen erfolgreichen Dokumentarfilm-Produktionsfirma »Gruppe 5«. Aber das ist eine andere Geschichte.
Christel Fomm, Kill Eichmeier mit Verkäufern in einem Tabakladen, 1979
Christel Fomm hat viele ihrer Filmproduktionen auch in fotografischen Serien begleitet, die sich nun ebenfalls im »Greven Archiv Digital« befinden. Und trotz aller großen, auch mehrteiligen Filmrealisationen sagt Fomm noch heute: »Ich fotografiere ständig, von morgens bis abends. Immer und überall lauern die Bilder, ständig bin ich am Quadrieren. Das ist ein leidenschaftliches Gucken – nicht mit der Kamera, allein mit dem Herzen.« In der Tat, aus eigener Erfahrung kann ich anfügen, Christel Fomm hat einen geübt scharfen Blick. Da kann es passieren, dass sie jemanden genauer sieht, als der sich selbst.
Reinhard Matz (geb. 1952), studierte nach einer Fotografenlehre Philosophie, Germanistik, Medienwissenschaft (M.A.) sowie künstlerische Fotografie. Er lebt seit 1975 in Köln und Berlin.




