Themenwelt
Bußgang nach den Nazi-Jahren
Alfred Tritschlers Fotografien der Heiligenskulpturen aus dem Kölner Museum Schnütgen
von Michael Kohler
Um das Jahr 1948 schloss der Fotograf Alfred Tritschler eine Zuflucht auf, die an die Höhlen der christlichen Urgemeinde erinnerte: Hinter verschlossenen Türen drängten sich Heilige, Engel und Propheten, um Schutz im Dunkel eines hinter schweren Mauern liegenden Lagerraums zu finden. Nach Kriegsende war die Sammlung mittelalterlicher Skulpturen des Museums Schnütgen aus süddeutschen Auslagerungsstätten ins Rheinland zurückgekehrt, vor allem nach Schloss Alfter am südlichen Rand des rheinischen Vorgebirges – nun sollte Tritschler die auf Stufen ausharrenden Figuren mit der Kamera zurück ins Leben holen. Beinahe sämtliche Aufnahmen seiner Serie sind Einzelporträts, aber Tritschler machte auch einige wenige Ensemblebilder, die das Innere des Kriegsbunkers dokumentieren. Ob ihm die darin enthaltene Symbolik aufging, wissen wir nicht, aber im Grunde ist sie kaum zu übersehen: Im NS-Staat hatten die Deutschen nicht nur die Heiligen, sondern auch ihren Glauben untergestellt, um ihn in besseren Tagen wieder hervorzuholen. Man kann es durchaus eine Umkehrung der christlichen Botschaft nennen.
Blick ins Depot in Schloss Alfter bei Bonn, 1948
Welche Rolle die deutsche Re-Christianisierung nach 1945 für den moralischen und tatsächlichen Wiederaufbau des Landes spielte, ist noch nicht umfassend erforscht. Aber dass der christliche Glaube neuen Halt gab nach den Nazijahren, lässt sich gerade im katholischen Köln an zahllosen Beispielen belegen. Auch für Alfred Tritschler (1905–1970) mag der Weg nach Köln und Alfter ein persönlicher Bußgang gewesen sein. Er war zwar kein Mitglied der Hitler-Partei gewesen, hatte im Nazi-Reich aber eine beachtliche Karriere gemacht und maßgeblich dabei mitgeholfen, die Fotoagentur Dr. Paul Wolff & Tritschler als eine der erfolgreichsten Adressen der deutschen Presselandschaft zu etablieren. Seine Bilder von den Olympischen Spielen in Berlin gingen 1936 um die Welt, er berichtete von Bord des Luftschiffs Hindenburg und beschickte – zunächst als Mitarbeiter des älteren Wolff, dann als dessen Mitgesellschafter – deutsche Magazine und Zeitungen im großen Stil.
Der Zeppelin LZ 129 Hindenburg, 1936
Bei Kriegsbeginn wurde Tritschler vom Militär als Berichterstatter einberufen. Er trug seine Kleinbildkamera nach Frankreich, Afrika und Russland und fiel weder durch ästhetische noch sonstige Widerborstigkeiten gegen das Erlebte auf. Als der Krieg vorüber war, knüpfte er beinahe nahtlos an seine Laufbahn in Friedenszeiten an und fotografierte für den Bildband »Schönheit am Wege« Gräser und Blumen aus nächster Nähe.
Die Sehnsucht, »Schönes und Wertvolles zu schaffen«, so Tritschler im Nachwort des Blumenbandes, führte ihn vermutlich auch nach Alfter zur Sammlung des ausgebombten Kölner Museums Schnütgen. Wie sich der Kontakt zum damaligen Schnütgen-Direktor Hermann Schnitzler ergab, ist unbekannt, aber Schnitzler öffnete dem renommierten Fotografen nicht nur die Türen seiner Sammlung, sondern brachte mit ihm auch ein reich illustriertes Buch über den Aachener Dom heraus. Man darf daher annehmen, dass Tritschlers Kölner Heiligenbilder ebenfalls für ein dann allerdings unverwirklicht gebliebenes Buchprojekt entstanden sind. Wobei sich Tritschler damals keinesfalls ausschließlich den Themen Natur und Religion widmete. In dieser Zeit erschienen auch sein enorm populäres Buch über den VW Käfer (»Kleiner Wagen auf großer Fahrt«) sowie ein Städteporträt Düsseldorfs als »Tochter Europas«. Seine in die Hunderte gehenden, bislang unveröffentlichten Aufnahmen vom Kölner Stadtbild dürfte er ebenfalls mit publizistischen Hintergedanken angefertigt haben; in der Firma Dr. Paul Wolff & Tritschler gingen Motivsuche und Geschäftssinn stets Hand in Hand.
Busbahnhof neben der Hohenzollernbrücke unterhalb des Doms, 1953
Was Tritschler um 1948 in den Schnütgen-Depots fand und was er daraus machte, war erst mit gut siebzig Jahren Verspätung in einer Sonderschau des Kölner Museums für mittelalterliche Kunst zu sehen. Die längste Zeit hielt man seine Fotografien dort für reine Archivaufnahmen, und als solche waren sie in den Akten auch abgelegt. Erst die Kuratorin Iris Metje erkannte, dass Tritschler anderes im Sinn hatte: Er holte die eingelagerten Heiligen ganz nah heran und machte sie zu Menschen wie du und ich. Statt Skulpturen aus Holz und Stein sehen wir Gesichter, denen Tritschler mit Licht und Schatten ein neues, dem modernen Betrachter zugeneigtes Leben schenkt.
Mit klassischen Aufnahmen für den Museumsgebrauch haben die erhaltenen Abzüge nicht viel gemein. Gemessen am frühen Leitfaden des Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin (»Wie Skulpturen fotografiert werden sollen«) machte Tritschler beinahe alles falsch, was man falsch machen kann. Er trennte Köpfe vom Rumpf, verschattete die Gesichter und scherte sich nicht um Frontalansichten – die Mehrzahl seiner Porträts zeigt die Heiligen tänzelnd im Halbprofil. Allzu gewagt war sein Blickwinkel gleichwohl nicht. Schon in den 1920er-Jahren hatte Richard Hamann das Publikum mit den »Deutschen Köpfen des Mittelalters« bekanntgemacht und Walter Hege die Figuren im Naumburger Dom vermenschlicht; bei der damaligen Popularisierung der alten Kunst spielte die Fotografie eine kaum zu überschätzende Rolle.
Torso eines Kruzifixus, Kopfporträt, 1948
Pietà, Kopfporträt des Christus, 1948
Auf das grundlegende Problem bei der Darstellung von Skulpturen, den Verlust der dritten Dimension, fand Tritschler eine aus seiner Pressearbeit abgeleitete Antwort. Während kunsthistorisch geschulte Kollegen die Figuren umkreisten, um ihnen eine aus wechselnden Perspektiven entstehende »Tiefe« zu verleihen, suchte Tritschler nach lebensnahen und fotogenen Blickwinkeln – was angesichts seiner Berufserfahrung auf dasselbe hinauslief. Als Verfechter der handlichen und »schnellschießenden« Leica-Kleinbildkamera war er es gewohnt, spontan auf seine Umgebung zu reagieren und Perspektiven einzunehmen, die mit sperrigeren Kameratypen nicht oder nicht so einfach zu finden waren. Die Klagefigur eines bärtigen Mannes vom Hochgrab des Erzbischofs Engelbert III. steht bei ihm ebenso schräg im Bild wie ein segnendes Jesuskind und beinahe sämtliche Darstellungen des Gekreuzigten; ein Prophet aus dem Kölner Rathaus ist von allen Seiten angeschnitten, die Halbfigur eines heiligen Hieronymus mit Kardinalshut wirkt wie ein erschöpfter Wanderer. Auch die Hintergründe versuchte Tritschler sacht zu dramatisieren: durch Schattenwürfe oder indem er einen hell ausgeleuchteten Engelskopf aus dem Chor des Kölner Doms in tiefe Schwärze hüllt.
Bei der im Jahr 2019 gezeigten Sonderausstellung im Museum Schnütgen rahmten Alfred Tritschlers Aufnahmen einen kleinen Skulpturengarten ein, der dem Besucher den direkten Vergleich zwischen Original und Abbild gestattete. Und gerade in dieser Gegenüberstellung zeigt sich die Besonderheit der Bilderserie: Tritschlers Porträts sind eine Einladung, Gemeinsamkeiten zu entdecken, die nicht nur Jahrhunderte überbrücken, sondern auch die Fremdheit eines unerschütterlich scheinenden Glaubens überwinden sollen. In diesem Sinne sind seine Bilder heute so aktuell wie nach dem Krieg. Man kann vor diesen Figuren nur darüber staunen, wie ein tief verinnerlichter Glaube ins Äußerliche drängt.
Alle Fotografien der Schnütgen-Skulpturen von Alfred Tritschler finden Sie hier.
Michael Kohler (geb. 1969) ist seit 2007 Nordrhein-Westfalen-Korrespondent des Kunstmagazins art und seit 2012 Kunstredakteur des Kölner Stadt-Anzeiger. Außerdem schreibt er regelmäßig Beiträge für die Süddeutsche Zeitung. Er lebt und arbeitet in Köln.










