Themenwelt
Buchleserinnen und Buchleser
von Martin Oehlen
Das Lesen von Büchern ist eine einsame Sache. Wer sich in ein Buch vertieft, mag keine Störung, keine Ablenkung, keine munter interagierende Gesellschaft. Solche Begleitumstände pulverisieren zu leicht die Konzentration. Allerdings handelt es sich um eine frei gewählte, geradezu ersehnte Isolation. Um die Leser muss man sich also keine Sorgen machen. Selbstverständlich ist ihre Einsamkeit nur von äußerlicher Art. Denn in Wahrheit stecken alle, die in Lektüre versunken sind, mitten im Leben der anderen, das manchmal dem eigenen zu ähneln scheint. Da werden wir Zeugen der vielfältigsten Familiendramen, fliegen wir zur Rettung der Menschheit Richtung Milchstraße, tummeln wir uns in fremden Betten oder durchgrübeln wir mit den hellsten Köpfen die Weltenrätsel. Aber, bitte: Keine Störung.
Italo Calvino hat die Voraussetzungen des Lesens auf vortreffliche Weise in seinem Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht (im Original 1979) geschildert. Gleich zu Beginn empfiehlt er uns, nein Dir, dem Leser seiner Zeilen, denn diese sind nur für einen Einzelnen bestimmt, wenn es am Ende auch viele Einzelne sein mögen: »Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Laß deine Umwelt im Ungewissen verschwimmen. Mach lieber die Tür zu, drüben läuft immer das Fernsehen. Sag es den anderen gleich: ›Nein, ich will nicht fernsehen!‹ Heb die Stimme, sonst hören sie’s nicht: ›Ich lese! Ich will nicht gestört werden!‹«
Die Suche nach einem stillen Ort für die Lektüre führt so manchen Leser genau dorthin – zum stillen Ort. So stellt es Alberto Manguel – der noch dem legendären Bibliomanen Jorge Luis Borges vorgelesen hat, als dieser erblindet war – in seiner Geschichte des Lesens (im Original 1996) dar. Aber auf solche Zufluchtsorte wollen wir nicht weiter eingehen, auch weil sich dafür in den vorliegenden Sammlungen keine fotografischen Belege finden. Allerdings gibt es darin Leserinnen und Leser zuhauf. Darunter zahlreiche Zeitungsleser, von denen an dieser Stelle nicht die Rede sein soll. Denn das Lesen einer Zeitung ist ja eine ganz andere Art des Umgangs mit den Buchstaben. Das fängt schon damit an, dass man nicht zwingend mit der ersten Seite beginnen muss. Das würde man sich bei kaum einem Buch erlauben. Auch verlangt ein Roman oder eine Abhandlung eine entschieden längere Verweildauer als eine Nachricht oder ein Kommentar.
Wo aber lesen die Menschen ihre Bücher? Calvino geht in seinem Roman von einem Leser aus, der es sich im häuslichen Umfeld bequem gemacht hat: »Im Sessel, auf dem Sofa, auf dem Schaukelstuhl, auf dem Liegestuhl, auf dem Puff. In der Hängematte, wenn du eine hast. Natürlich auch auf dem Bett oder im Bett. Du kannst auch Kopfstand machen, in Yogahaltung. Dann selbstverständlich mit umgedrehtem Buch.«
Christel Fomm, Kölner Kunstmarkt 1969
Es gibt in den Fotobeständen des Greven Archiv Digital zahlreiche Hinweise auf ein dem Lesen zuträgliches Ambiente: unter einem Olivenbaum, auf einem antiken Säulenstumpf, in einem Kreuzgang in Bozen, auf römischen Treppen, in einer Bibliothek oder auf einer Bank im Kurpark von Bad Homburg. Nicht so ideal wirkt hingegen der Platz, den sich Walther König ausgesucht hat: Christel Fomm zeigt ihn am Stand seiner Buchhandlung inmitten des Kölner Kunstmarkts, der 1969 zum dritten Mal stattfand, nunmehr in der Josef-Haubrich-Kunsthalle. Das Geschwirre, Gedränge, Getöse vermittelt sich dem Betrachter sofort. Umso eindrucksvoller wirkt da der Buchhändler als Ruhepol, wenngleich er vielleicht nur für wenige Sekunden ins Buch blicken kann, da schon der nächste Kunde naht. Lesen im Auge des Hurrikans.
Oswald Kettenberger, Die Nichte des Fotografen in ihrem Jugendzimmer, um 1970
Eine bessere Ortswahl hat die Nichte des Fotografen Oswald Kettenberger getroffen, die es sich um 1970 auf ihrer Couch im Jugendzimmer bequem macht. Bäuchlings liegend und den Kopf auf beide Hände gestützt, scheint sie in ein Buch vertieft, gerade so, als nehme sie den Fotografen nicht wahr, der da in ihrer Nähe am Belichtungsmesser dreht. Und schon gar nicht lässt sie sich ablenken von all den populären Musikern ihrer Zeit, deren Plakate die Zimmerwand füllen: Creedence Clearwater Revival, Led Zeppelin, Jimi Hendrix, Melanie, Neil Diamond, auch Udo Jürgens, Katja Ebstein und als fachfremder Star noch Charles Bronson. Ein ästhetischer Geschmack in der Entwicklung.
Oswald Kettenberger, Justizvollzugsanstalt: Junger Insasse beim Lesen auf seiner Pritsche, um 1973
Dramatisch karger präsentiert sich das Leseumfeld für den jungen Mann, der auf seiner Zellenpritsche ein Taschenbuch liest. Das Tageslicht, das durch das Gitter vor dem geöffneten Fenster eindringt, reicht ihm für die Lektüre aus. Mag sein, dass der Häftling die Zeit zur Weiterbildung nutzen oder das Warten auf die Freilassung verkürzen möchte. Immerhin – der Kalender an der Wand zeigt das Jahr 1973 an, weshalb wir davon ausgehen können, dass er dieses Kapitel seines Lebens heute längst hinter sich gelassen hat.
Oswald Kettenberger, Berlin: Lesende Frau und rauchender Mann in der U-Bahn, 1970er-Jahre
In den 1970er-Jahren war Oswald Kettenberger mit seiner Kamera auch in der U-Bahn unterwegs. Die junge Frau, die sich auf ihr Buch zu konzentrieren versucht, kann uns keine Versunkenheit vortäuschen. Viel zu beengt fühlt sie sich am Sitzbankende, bedrängt von dem älteren Mann an ihrer Seite, der seine sich vor Leere beulende, nassgeregnete Aktentasche mit beiden Händen auf den Knien festhält. Dazu steckt ihm eine Zigarre im Mund, die nicht den Eindruck macht, als wäre sie erkaltet. Nur zur Erinnerung: Wir befinden uns in einem U-Bahn-Waggon. Die Szene wird von einer älteren Frau am Ausstieg beobachtet; vielleicht ist es ihr Ehemann, den sie da im Blick hat. Arme Leserin! So angenehm es zuweilen ist, sich lesend die Fahrt im öffentlichen Nahverkehr zu verkürzen, so unmöglich ist es, unter derart pressierenden Umständen mit der Lektüre voranzukommen. Die junge Frau, da würden wir eine Wette eingehen, wird auch noch am Ende der Fahrt auf die erste Seite starren, die sie aufgeschlagen hat.
Christel Fomm, Im Zug: Porträt eines Mannes mit Buch, um 1980-1990
Wieviel besser ergeht es da dem Fahrgast im Zug der Deutschen Bundesbahn, den Christel Fomm auf der Strecke von Aachen (über Köln, Düsseldorf, Essen, Dortmund, Hannover, Helmstedt, Marienborn) nach Berlin-Stadtbahn aufgenommen hat. Es ist ein ruhiger Moment in dem mit munteren Freundinnen und Freunden vollbesetzten Abteil, wie man auf den weiteren Aufnahmen dieser Langstreckenzugfahrt erkennen kann. Den rechten Fuß gegen den Aschenbecher gestützt, blickt der Mann geradezu verklärt in das zerlesene Exemplar, das mutmaßlich aus der edition suhrkamp stammt.
Was jeweils gelesen wird, kann man auf den Fotos nur in wenigen Fällen erkennen. Dabei ist gerade das für Bücherfreunde eine besondere Verlockung: in Erfahrung zu bringen, was die anderen schätzen. Kaum hinzunehmen ist es, wenn ein Mitreisender in ein Buch vertieft ist und es so ungünstig in den Händen hält, dass man fünfmal scheinbar beiläufig hinschauen muss, ehe man den Titel erkennt. Geradewegs nach Autor oder Titel zu fragen, wäre ja alles in einem – störend, aufdringlich und indiskret. Doch wissen würde man es schon ganz gerne.
In einem Archivfall wird mit offenen Karten gespielt: Da liegen zwei Frauen unter einer Decke an einer groben Mauer und teilen sich Betty Friedans The Feminine Mystique (im Original 1963). Gerade scheinen sie sich lachend auszutauschen über eine Stelle in dem Emanzipations-Bestseller, der auf Deutsch unter dem Titel Der Weiblichkeitswahn (1966) erschienen ist. Betty Friedan zerfetzt das Bild von der glücklichen amerikanischen Hausfrau der 1950er-Jahre und schreibt an einer Stelle: »Ihr Tag ist zerrissen, denn sie stürzt vom Geschirrspülautomaten zur Waschmaschine, vom Telefon zur Wäscheschleuder, vom Auto zum Supermarkt, liefert Johnny bei den Pfadfindern und Janey in der Tanzstunde ab, läßt den Rasenmäher reparieren und holt ihren Mann um 6 Uhr 45 vom Vorortzug ab. Niemals kann sie länger als 15 Minuten bei einer Sache bleiben; sie hat keine Zeit, Bücher zu lesen, höchstens Zeitschriften; selbst wenn sie Zeit hätte, so könnte sie sich auf Bücher nicht konzentrieren.«
Das Foto entstand in der Felsenfestung Massada in Israel. Und bei den Leserinnen handelt es sich um zwei Statistinnen, die gerade Pause haben während der Dreharbeiten zum Musikfilm Jesus Christ Superstar (1973) von Norman Jewison. Wir könnten hier noch erwähnen, dass der Jesus-Darsteller Ted Neeley am Set seine zukünftige Ehefrau kennengelernt hat, die wie viele andere mehr als Statistin engagiert war. Aber ob nun ausgerechnet eine der Leserinnen – ach, lassen wir das.
Ein Sonderfall ist dieses Foto auch deshalb, weil es eine gemeinsame Lektüre festhält. Dafür finden sich nicht viele weitere Nachweise. Dabei war das Vorlesen – in der Nachfolge des mündlichen Erzählens – einst die Urform der literarischen Rezeption. Selbstverständlich kommt es auch heute noch vor. Die Eltern lesen ihren Kindern vor und der Priester seiner Gemeinde, der Vorleser in Kubas Zigarrenfabriken ist ein eingetragener Beruf (lectora beziehungsweise lector de tabaquería) und die Zahl der Lesungen auf Literaturfestivals oder in Literaturhäusern scheint stetig zu steigen. Einige solcher Lesekreise lassen sich auch in diesem Fotoarchiv finden. Aber dominant sind die Soloauftritte. Zumal solche von Frauen. Was der Statistik entspricht: Frauen greifen häufiger zu Büchern als Männer. So auch hier.
Oswald Kettenberger, Skulpturenpark, um 1970
Dass einem die Bücher zu denken geben, verkörpert jene Raucherin vortrefflich, die bei sommerlicher Temperatur in einem Skulpturengarten sitzt. Versonnen schaut sie in die Ferne, während sie ihr Buch, aufgeschlagen irgendwo zwischen dem ersten und dem zweiten Drittel, mit dem linken Fuß auf einer Stufe fixiert. Das klingt nach einem groben Umgang mit dem kostbaren Objekt. Doch der Fuß ist nylonbestrumpft. Die Frau hat die Schuhe abgestreift, eher nachlässig, denn sie liegen in nächster Nähe, einer auf der Seite und der andere mit spitzem Absatz zum Himmel zeigend. Lyrisch gestimmte Betrachter könnten hier an Ezra Pound denken, der die rhetorische Frage aufwarf: »Lesen, indes der weiße Flügelschlag der Zeit uns streift, ist das nicht Seligkeit?«
Archivar Dr. Jakob Torsy, 1971
Ginge es darum, diese Frau in eine Lesertypenkategorie einzuordnen, so gehörte sie wohl zu den Genusslesern, die sich in eine Geschichte fallen lassen und auf Entspannung zielen. Dem gegenüber steht der Leistungsleser, der sich Wissen aneignen und möglichst zügig zum Buchende kommen will. Irgendwo dazwischen scheint sich der Kölner Diözesanarchivar Jakob Torsy (1908–1990) zu befinden. Denn er sitzt einerseits konzentriert am Schreibtisch und blickt in einen Wälzer. Andererseits hält er so souverän wie gelassen in der rechten Hand eine Zigarre, die er zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger leicht in die Höhe streckt, damit die Asche nicht aufs Papier fällt. Torsy selbst ist im Übrigen mit einigen seiner Aufnahmen von sakralen Bauwerken in der hier zugänglichen Fotosammlung des Historischen Archivs des Erzbistums Köln vertreten.
Lesende Kinder in der Kölner Zentralbibliothek
Und die jungen Leser? Eine Erkenntnis der Forschung lautet: Die Lesesozialisation beginnt im Elternhaus. Wo Bücher im Haushalt sind und wo Eltern als Vorbilder agieren, da wachsen Leser nach. Den beiden Kindern in der Kölner Zentralbibliothek, die in der Sammlung der Kölnischen Rundschau auftauchen, muss man die einschlägigen Reize offenbar nicht mehr vermitteln. Sie erkunden in der nüchtern-modernen Atmosphäre der öffentlichen Einrichtung aufmerksam die Bilderbücher, die in ihren Händen so groß wirken wie ein raumgreifender Foliant aus dem Mittelalter oder wie ein SUMO-Band aus dem Taschen-Verlag.
Heinzherbert Wirtz, Comic-Koryphäe Bene Taschen, 8. September 1980
Damit haben wir die Verbindung zu einem weiteren Bilddokument aus dem Bestand der Kölnischen Rundschau hergestellt. Pressefotograf Hansherbert Wirtz zeigt uns den Verleger Benedikt Taschen in seinem erst ein halbes Jahr zuvor eröffneten Comic-Laden in der Kölner Lungengasse. In den Händen hält er einen aufgeschlagenen Hergé-Band: Tim und Struppi – Der geheimnisvolle Stern. Als Walter Benjamin 1931 über das Sammeln von Büchern schrieb, stellte er fest: »Von allen Arten, sich Bücher zu verschaffen, wird als die rühmlichste betrachtet, sie selbst zu schreiben.« Aber auch nicht schlecht ist das Verfahren, die Lieblingsbücher in einer eigenen Buchhandlung oder in einem eigenen Verlag zu versammeln. Benedikt Taschen blickt hier jedenfalls gleichermaßen frohgemut in die Kamera wie in die Zukunft. Der 19-jährige Unternehmer bestätigt diesen Eindruck in dem dazugehörigen Zeitungsartikel aus dem Jahre 1980. Über seine Internationale Buchhandlung für Trivialliteratur sagt er da: »Onassis hat sich ja auch mit 19 den ersten Tanker gekauft.«
Elektronische Lesegeräte sind in diesen Fotobeständen (noch) nicht in Sicht. Da schaut keine und keiner auf E-Reader oder Smartphone. Aber das wird kommen. Das Lesen geht in jedem Fall weiter. Trotz Streaming-Verlockungen und Social-Media-Verpflichtungen. Selbst bei Jugendlichen ist die Buchbindung in den vergangenen Jahren konstant. Somit bleibt die Frage ewig aktuell, die Karl Kraus gestellt hat: »Wo nehme ich nur die Zeit her, so viel nicht zu lesen?«
Martin Oehlen (geb. 1955) leitete 25 Jahre lang das Kulturressort des Kölner Stadt-Anzeigers. Er schreibt auch heute noch für diese Zeitung, gehört der Jury zur Vergabe der Dieter-Wellershoff-Stipendien an und engagiert sich auch sonst in vielfältiger Weise für das Kölner Kulturleben. Zudem ist er mitverantwortlich für den Literatur- und Reise-Blog Bücheratlas.










