Themenwelt
Achtzig Generationen und eine
Volker Döhnes »LIMES«
von Steffen Siegel
Fotografieren heißt, Vergangenheit zu produzieren. Im Augenblick, da sich der Verschluss des Objektivs mit seinem charakteristischen Klicken wieder schließt, wird ein Schnitt gesetzt. Das gerade entstandene Bild wird von der Wirklichkeit getrennt und in seine ganz eigene Zeitsphäre entlassen. Unsere Faszination für fotografische Bilder hat nicht zuletzt darin ihren Grund: Betrachten wir eine Fotografie, so machen wir die irritierende und paradoxe Erfahrung vergangener Präsenz. Im Bild tritt uns eine Gegenwart gegenüber, die für uns greifbar und in ihrem ganzen Reichtum lebendig zu werden scheint. Fotografien betrachten heißt, gleichermaßen Anwesenheit wie Abwesenheit zu erleben: Wir sehen, was uns entzogen bleiben wird, weil es hinter uns liegt. Oder genauer noch: weil es sich immer weiter von uns entfernt. In Fotografien findet sich nicht einfach eine vergangene Zeit eingeschlossen; zu einem Bild geformt, wird sie ihrerseits überhaupt erst als etwas Vergehendes entstehen. Durch den sich fortgesetzt dehnenden Abstand, der sich zwischen uns und dem Augenblick der Aufnahme öffnet, wächst Fotografien eine historische Kraft zu, die sich immer weiter vergrößert und intensiviert.
Volker Döhne, Köln-Niehl, Sebastianstraße (1993/94)
Limes nennt Volker Döhne sein in den Jahren 1993 und 1994 entstandenes fotografisches Projekt. Und er macht mit ihm deutlich, dass die Arbeit mit der Kamera beides zugleich ist: eine Aneignung des Raums und eine Auseinandersetzung mit der Zeit. Was Döhne hierbei gesammelt hat, scheint uns durchaus vertraut zu sein: Wir blicken auf Straßen und Kreuzungen, Fassaden und Zäune, Industrieanlagen und Kleingärten, Stadttore und Kirchtürme, historische Architektur und anonyme Bauten. Sie alle, aufgenommen in der Region von Bonn bis Xanten, gehören zu einem Porträt des Rheinlands; das heißt zu einem Kulturraum, dessen Physiognomie sich beidem verdankt: sehr alten Städten, aber auch der Weite einer Landschaft, die sich vor allem in der Horizontalen ausdehnt. Seit den 1960er-Jahren beschäftigte sich der Soziologe Lucius Burckhardt mit den Grundlagen einer Promenadologie, einer Spaziergangswissenschaft. Was im ersten Moment wie ein Scherz klingen mag, war aber durchaus als eine ernsthafte Methode wissenschaftlichen Arbeitens angelegt. Auskunft über die moderne Gesellschaft wollte Burckhardt geben, indem er die Ordnungen ihrer Räume erkundete. Von Interesse waren die je besonderen Schichtungen und Verbindungen, das heißt das komplexe Nach-, Neben- und Miteinander von Räumen. Anhand von Volker Döhnes Bildern lässt sich betrachten, wie sich Promenadologie am besten durchführen lässt: Die Erfahrung des Raums wird als eine Er-fahrung beim Wort genommen. Es wird darum gehen, Räume entlang einer Linie zu »durchqueren« und die hierbei erfassten Dinge miteinander in Beziehung zu setzen. Sichtbar werden kann etwas Grundlegendes: der Ort des je Einzelnen innerhalb eines größeren Netzes, das die Dinge unmerklich miteinander verbindet.
Volker Döhne, Bonn-Graurheindorf, Estermannstraße (1993/94)
Volker Döhne, Bonn-Graurheindorf, Estermannstraße (1993/94)
Volker Döhne, Rheinberg-Annaberg, Römerstraße (1993/94)
Döhnes fotografisches Interesse gilt einer Erfahrung, die sich den Raum entlang einer vorgefassten Linie aneignet. Dabei wird in der Folge seiner Bilder deutlich, dass es jedoch kaum möglich ist, von einem einzigen Raum zu sprechen. Vielmehr handelt es sich um eine Staffelung sehr unterschiedlicher und in manchen Fällen sogar gegensätzlicher Raumtypen. Marktplätze finden sich hier neben Durchgangs- und Ausfallstraßen, moderne Wohngebiete neben Dorfstraßen, Gleisanlagen neben innerstädtischen Fußgängerzonen oder verlassenen Feldwegen. Zusammengehalten werden diese sehr unterschiedlichen Orte unserer modernen Zivilisation von einer Linie, die vor gut 2000 Jahren in der Landschaft des Niederrheins ausgelegt worden ist. Den Charme von Volker Döhnes Erkundung dieses Abschnitts des römischen Limes macht nicht zuletzt aus, dass wir auf zwei scheinbar gegensätzliche Funktionen aufmerksam gemacht werden: War es zum einen diejenige, eine äußere Grenze des Römischen Reiches zu markieren, so verbindet sich damit zugleich die Möglichkeit von Bewegung. Die erste Funktion des römischen Bodendenkmals mag sich lange schon verloren haben, die entlang dieser Linie angelegten Verkehrswege hingegen haben sich ihrer Struktur nach erhalten und werden von uns noch immer genutzt.
Volker Döhne, Köln, Severinstraße (1993/94)
Volker Döhne, Duisburg-Rumeln-Kaldenhausen, Düsseldorfer Straße (1993/94)
In Volker Döhnes fotografischer Annäherung an den Limes wird deutlich, dass wir bei Kulturräumen mit komplexen Schichtungen aus Raum und Zeit rechnen müssen. Wir errichten unsere eigene, heutige Lebenswirklichkeit an Orten voller Geschichte. Wie etwa die bei Döhne versammelten Ansichten des Zentrums von Köln zeigen, ist die Präsenz dieser Vergangenheit vor allem in den Innenstädten – trotz gewaltiger Eingriffe, wie sie etwa der Umbau zu »autogerechten Städten« mit sich brachte – überall mit Händen zu fassen. Doch reicht Döhnes Interesse an solchen Schichtungen deutlich über das Offenkundige hinaus: Seiner fotografischen Recherche ist eine Ordnung eingeschrieben, die von Bild zu Bild (und im Buch von Doppelseite zu Doppelseite) einen Bogen spannt, der von Bonn als südlichstem Punkt und Xanten als seinem nördlichsten reicht. Sich gemeinsam mit Döhne entlang dieser Linie durch die Rheinlandschaft zu bewegen, wird daher heißen, einem Weg zu folgen, der nicht allein den Raum, sondern zugleich die Zeit durchmisst. Landschaft, als ein Kulturraum aufgefasst, ist ein Palimpsest, in dem sich verschiedene Zeiten überlagern und zu einem schwer entzifferbaren Text formieren.
Volker Döhne, Bonn, Adenauerallee (1993/94)
Volker Döhne, Colonia Ulpia Trajana, Archäologischer Park (1993/94)
Ob Einkaufszentrum oder Einfamilienhaus, Landgasthof oder Werksgelände, sie alle wurden an einem Verkehrsweg errichtet, der vor zwei Jahrtausenden angelegt worden ist. Wer sich heute auf der Adenauerallee in Bonn, der Hohe Straße in Köln oder der Siegfriedstraße in Xanten bewegt, vertraut sich – wissentlich oder auch nicht – der Gliederung eines Raums an, die während der vergangenen 2000 Jahre immer wieder neu interpretiert worden ist. Ihre Prinzipien aber haben sich bis heute überraschend detailgetreu erhalten. Noch am leichtesten zu erkennen ist dies in alten Stadtzentren, zum Beispiel in Köln. Hier folgte die früheste urbane Gliederung dem römischen Katasterprinzip, was sich bis heute am Cardo maximus (Hohe Straße) und am Decumanus maximus (Schildergasse) ablesen lässt. Solche Vektoren sind es, die Volker Döhne aufgreift, um ihnen weit über die Stadttore hinaus zu folgen und sie in eine fotografisch angelegte Kartierung des Rheins zu übersetzen. Quer durch Raum und Zeit werden auf diese Weise sehr alte Verbindungen sichtbar, die uns bis an den Beginn unserer eigenen Zivilisation zurückführen. Hierbei zeugt von hintersinnigem Humor, dass Döhne seine Recherche direkt vor dem (alten) Bundeskanzleramt in Bonn beginnen lässt, um sie – die historische Ordnung gewissermaßen umkehrend – an der Colonia Ulpia Trajana, dem Archäologischen Park in Xanten, zu beenden.
Volker Döhne, Krefeld-Linn, Hafenstraße (1993/94)
Doch handelt es bei diesen beiden geografischen Eckpunkten von Döhnes Projekt tatsächlich um die denkbar größten Gegensätze in einer Geschichte des Rheins zwischen Bonn und Xanten? In gewisser Weise trifft dies sicher zu, und es wird auch vom promenadologisch inspirierten Fotografen so empfunden worden sein, als er in den Jahren 1993 und 1994 einer Spur folgte, die gut 80 Generationen vor ihm ausgelegt worden war. Zwischen dem Fotografen und uns selbst, zwischen seiner Aneignung des Raums und unseren Blicken auf das von ihm Erfasste steht aber zweierlei: zum einen wiederum 25 Jahre, das heißt eine weitere Generation, zum anderen aber seine Fotografien selbst. Es fällt auf, wie sehr Döhne darauf bedacht war, Distanz zu wahren. Selbst wenn sich in seinen Bildern eine Fülle von Details und die Besonderheiten des jeweils fotografierten Ortes abzeichnen, im Ganzen beschreibt der von ihm gleichbleibend gewahrte Blickwinkel die Weite der Landschaft. Suchen können wir hierbei nach einer alle diese Ansichten durchziehenden Linie, die die Geografie der Gegend in einen Kulturraum verwandelt. Zugleich aber erzeugt das charakteristische Schwarz-Weiß all dieser Bilder einen merkwürdigen Effekt: So groß die Unterschiede zwischen den festgehaltenen Orten tatsächlich sein mögen, anhand der fotografischen Serie gewinnen wir einen Begriff von ihrem Zusammenhang.
Volker Döhne, Neuss-Uedesheim, Steinstraße (1993/94)
Volker Döhnes Erkundung des niederrheinischen Limes ist eine grundlegende Erfahrung eingeschrieben: Anhand seiner Fotografien wird deutlich, wie sich der zeitliche Abstand zwischen uns und dem Vergangenen fortgesetzt dehnt. Die Aussagekraft einer Fotografie wird sich im Lauf der Zeit einzig vergrößern. Im Augenblick ihrer Entstehung mag sie ganz einer Beglaubigung von Präsenz dienen, doch ist sie bereits dann schon darauf ausgelegt, unmerklich in Vergangenheit hinüberzuwachsen. Vielleicht ist es möglich, mit Blick auf Döhnes Arbeit diesen Prozess der Verwandlung genauer zu bestimmen. Aufgenommen wurde die fotografische Serie in den Jahren 1993 und 1994. Von heute aus (und auch dieses ›heute‹ ist nichts anderes als eine fortwährend neu zu bestimmende zeitliche Markierung) können wir uns fragen, welche Zeichen sich in die Bilder eingetragen haben, die seinerzeit die jüngste Schicht des rheinischen Kulturraums ausmachten. Es waren gerade jene Jahre, in denen das politische Zentrum der Bundesrepublik vom Rhein an die Spree, von Bonn nach Berlin verlegt wurde. Es ist gewiss kein Zufall, dass Döhne seine Serie mit einer Aufnahme eröffnet, die das in Bronze gegossene Porträt des Rheinländers und ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer zeigt. Uns mit Volker Döhnes fotografischer Serie entlang des Limes bewegend, können wir uns tatsächlich fragen: Ist die Bonner Republik heute nicht längst unsere eigene Antike geworden?
Alle Fotografien aus Volker Döhnes LIMES-Serie finden Sie hier.
Steffen Siegel (geb. 1976) lehrt seit 2015 als Professor für Theorie und Geschichte der Fotografie an der Folkwang Universität der Künste. Hier leitet er den wissenschaftlichen Master-Studiengang Photography Studies and Research und das Promotionsprogramm zu Theorie und Geschichte der Fotografie.










