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Politisches Nachtgebet in der Antoniterkirche

von Anselm Weyer

Menschen, die dichtgedrängt bis in die Gänge und den Altarbereich der Antoniterkirche in der Kölner Schildergasse sitzen und stehen, sind auf den Fotos zu sehen, mit denen Oswald Kettenberger, ein Bruder der Benediktinerabtei Maria Laach, ein im Januar 1969 zum Thema Strafvollzug gefeiertes Politisches Nachtgebet festhielt.

Die Politischen Nachtgebete wurden von 1968 bis 1972 regelmäßig in der Antoniterkirche gefeiert und waren der Versuch, linke politische Positionen in der Kirche zu verankern. Organisiert und durchgeführt wurden sie von einer ökumenischen Gruppe, zu der unter anderem Peter Busmann, Michael Dohle, Martin und Rosmarie Gentges, Egbert und Mechthild Höflich, Eberhard Kerlen, Rainer Kippe, Maria Mies, Peter Neumann, Klaus Schmidt, Dorothee Sölle, Fulbert Steffensky, Vilma Sturm, Marie Veit und Gesche Vey gehörten.

Bereits beim 12. Evangelischen Kirchentag in Köln im Jahr 1965 hatte Dorothee Sölle Aufmerksamkeit erregt mit ihrem Vortrag »Kirche ist auch außerhalb der Kirche«, in dem die Kölner Theologin sagte: »Wie man nach Auschwitz den Gott loben soll, der alles so herrlich regieret, das weiß ich nicht.«[1]

Christen, so eine zentrale Schlussfolgerung Sölles, könnten nicht passiv auf einen Gott hoffen, der allgütig sein mag, dessen Allmacht aber in Anbetracht der Gräuel im Umfeld des Zweiten Weltkriegs doch sehr angezweifelt werden müsse. Wenn aber Gott auf das Handeln der Menschen angewiesen ist, er also keine anderen Hände hat als unsere, dann gehörten, so folgert Sölle, politisches Engagement und Glaube untrennbar zusammen.

Nun war die Zeit, da Politik und Kirche sich unerfreulich nahegekommen waren, noch nicht lange vorbei. Die Deutschen Christen während der Zeit des Nationalsozialismus waren schließlich alles andere als unpolitisch, und Hakenkreuze hatten in etlichen Kirchen Einzug gehalten – selbst am Kölner Dom. Eine Vermengung von Politik und Kirche wurde deswegen nach dem Zweiten Weltkrieg von den Amtskirchen überaus skeptisch gesehen. Dessen ungeachtet setzte sich in Neu St. Alban am Kölner Stadtgarten, das Pfarrer Dr. Hugo Poth zum Anziehungspunkt progressiver Christen gemacht hatte, eine ökumenische Gruppe mit politischer Theologie auseinander. Diese lud im Anschluss an den Gottesdienst am dritten Advent 1967 zum Gespräch über die Frage, was Christen gegen den Krieg in Vietnam tun könnten. Als das Generalvikariat die Veranstaltung mit der Begründung verbot, dass eine Kirche nicht Schauplatz politischer Diskussionen sein dürfe, diskutierten etwa hundertfünfzig Kirchgängerinnen und Kirchgänger einfach circa eine Stunde lang in eisiger Kälte vor dem Portal.

Vom großen Interesse sowohl bei der Bevölkerung als auch bei Medien und Verfassungsschutz ermutigt, gründete sich ein »Arbeitskreis Vietnam«, der damit begann, vor dem Gottesdienst Flugblätter zu verteilen und Briefe etwa an die Bundestagsfraktionen, den Bundesaußenminister oder den Bundeskanzler zu verfassen. Während dann im Folgejahr ein Autokorso durch die Innenstadt unter Transparenten mit dem Motto »Christen helfen Vietnam« noch in der Karnevalszeit unterging, wurde der Schweigemarsch an Karfreitag 1968 zum Medienereignis. Etwa zweitausend Menschen folgten einem Plakat mit der Aufschrift »Golgatha ist Vietnam«.[2] Der Protestzug gipfelte auf dem Kölner Neumarkt in einem Gottesdienst, so dass Politik und Gottesdienst nicht mehr voneinander separiert waren, sondern Hand in Hand liefen – wenn auch noch nicht innerhalb eines Gotteshauses.

Im September 1968 kam dann der Essener Katholikentag. Die Organisatoren hatten einen politischen Gottesdienst des inzwischen berüchtigten Kölner ökumenischen Arbeitskreises auf die undankbare Uhrzeit 23 Uhr gelegt, da man das Projekt zwar nicht verbieten, ihm aber auch keine große Bühne geben wollte. Das Politische Nachtgebet als Nachtgebet war geboren. Auf den vier Grundpfeilern »Information«, »Meditation«, »Diskussion« und »Aktion« verband es fortan Glauben und Tagespolitik beziehungsweise andere aktuelle gesellschaftliche Fragen wie Diskriminierung, Bodenspekulation, Mitbestimmung, Strafvollzug oder Entwicklungshilfe.

Dieses Politische Nachtgebet sollte nun kein einmaliges Kirchentagsevent bleiben, sondern als monatlicher Gottesdienst in Köln in der katholischen Kirche St. Peter etabliert werden. Doch als die Plakate schon hingen und alles bereitet war, schritt im letzten Moment Kardinal Frings ein und verbot den Gottesdienst in einer katholischen Kirche. Verzweifelt wandten sich die Organisatoren an Pfarrer Jörg Eichert von der nahe gelegenen Antoniterkirche, der die Nutzung »seiner« Kirche erlaubte und dann von der gewaltigen Resonanz überwältigt wurde. Wegen des großen Andrangs wurde das Politische Nachtgebet zwischenzeitlich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit identischer Liturgie gefeiert.

Die evangelische Kirchenleitung war jedoch ebenfalls nicht begeistert. Präses Joachim Beckmann überlegte gar öffentlich, ob und wie man diese Gottesdienste verbieten könnte. Dorothee Sölle und ihre Mitstreiter vertraten die Auffassung, dass christliche Lebensführung, politisches Engagement und Theologie nicht voneinander zu trennen seien. Fulbert Steffensky formulierte es im ersten Politischen Nachtgebet in der Antoniterkirche so: »Gott gibt sich nicht mit weniger zufrieden, wie die Liebe sich niemals mit weniger zufrieden geben kann als mit dem Ganzen. Darum gehört zur Verkündigung und zur Sorge der Kirche nicht nur ein innerliches, ein jenseitiges, ein späteres Heil, sondern das ganze Wohl des Menschen, sein individuelles und sein gesellschaftliches, sein leibliches und sein geistiges.«[3] Während also die Nachtbeter ihre Gottesdienste an die Menschen als Ganzes gerichtet wissen wollten, war Beckmann die Verbindung von Christentum und offen zur Schau getragenen sozialistischen Tendenzen ein Dorn im Auge. Er sah das Nachtgebet als eine »vollständige Umwandlung des Evangeliums in politische Weisung«, so dass dagegen die »Deutschen Christen« der NS-Zeit eine harmlose Gruppe gewesen seien – ein Vergleich, der die Nachtbeter verständlicherweise empörte.

Als Oswald Kettenberger im Januar 1969 das Politische Nachtgebet zum Thema Strafvollzug besuchte, war er eigenen Angaben zufolge »beklommen beeindruckt von der Sache«: »Nie hätte ich an diesem Abend einen Diskussionsbeitrag leisten können, wäre ich dazu aufgefordert worden. Die Rhetorik der wortgewaltigen Veranstalter war so akademisch-großartig, daß ich als ehemaliger Volksschüler nur staunend den Mund halten konnte.«[4] Das Projekt Politisches Nachtgebet hielt sich vier Jahre solide. Dann ließ der Enthusiasmus der Beteiligten langsam nach. Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Gottesdienste waren äußerst aufwendig, wenn die von der Gruppe formulierten Qualitätsstandards eingehalten werden sollten. Jeden Monat musste ein neues Thema gefunden, dann Informationen zusammengetragen und für den Gottesdienst aufbereitet werden, flankiert von eigens zu diesem Thema aktuell formulierten liturgischen Texten. Damit der Impuls wirklich in gesellschaftliche Veränderung überführt würde, sollte nach jedem Gottesdienst eine konkrete Handlungsmöglichkeit aufgezeigt und im Anschluss nachverfolgt werden – die oben erwähnte »Aktion«. All dies wurde ehrenamtlich, also als Freizeitbeschäftigung erledigt. Hinzu kamen Fluktuationen innerhalb der Gruppe. Nicht nur endeten inhaltliche Differenzen innerhalb der Gruppe mitunter in nachhaltigen Zerwürfnissen. Mit Dorothee Sölle, Marie Veit und Fulbert Steffensky führte gleich bei drei zentralen Personen des »Ökumenischen Arbeitskreises« der berufliche Lebensweg weg von Köln. Diese Verluste ließen sich nicht einfach wettmachen. Vor allem aber verlor die Revolutionierung der Liturgie an Reiz. »Es genügt in der gegenwärtigen Situation nicht mehr, politische Gottesdienste zu machen«, schreibt Dorothee Sölle 1973. »Die Resolution auf dem diesjährigen Düsseldorfer Kirchentag, dass politische Gottesdienste wie zum Beispiel das Kölner Nachtgebet als Gottesdienste anerkannt und in vielen Formen wiederholt werden sollen, bezeichnet in der innerkirchlichen Richtung unserer Arbeit einen Erfolg und eine Zäsur. Nach viereinhalb Jahren Arbeit an politischem Gottesdienst und Bewusstseinsbildung im Medium Gottesdienst können wir sagen, dass uns auf dieser Ebene ein prinzipieller Vorstoß gelungen ist. Sicher wird es nicht genügen, nur den Fuß in der Tür zu behalten und das Erreichte auszubauen; wichtiger ist es jetzt, unsere Sache weiterzutragen auf die anderen Ebenen des politischen und kirchlichen Lebens. Unser Ziel war ja nicht Gottesdienstreform, sondern reale Veränderung mit Hilfe einer Politisierung des Gewissens.«[5]

Das Politische Nachtgebet als monatliche Veranstaltung wurde eingestellt. Trotzdem blieb es nicht folgenlos. In unregelmäßigen Abständen und zu besonderen Anlässen werden bis heute immer wieder politische Gottesdienste gefeiert, die auch immer wieder gerne explizit als Politische Nachtgebete firmieren. Die Feierabendmahlsbewegung oder die Liturgischen Nächte bei Kirchentagen nahmen den politischen Ansatz der Politischen Nachtgebete auf. Keimzelle der Proteste, die 1989 zum Fall der Mauer führten, waren die Montagsdemonstrationen in Leipzig, die wiederum aus den schon 1982 von Pfarrer Christoph Wonneberger ins Leben gerufenen »Friedensgebeten« in der Nikolaikirche hervorgegangen waren. Inspiration für diese Friedensgebete war, so erzählt Wonneberger, das Politische Nachtgebet. Die großen Kirchen scheuen sich inzwischen wieder nicht mehr, in gesellschaftspolitischen Fragen offen das Wort zu ergreifen und somit als Korrektiv zu wirken. Das alles ist auch eine Nachwirkung des Politischen Nachtgebets in Köln.

Dr. Anselm Weyer (geb. 1976) lehrt an mehreren Hochschulen und Erwachsenenbildungsakademien zwischen Frankfurt am Main und Bremen. Darüber hinaus ist er journalistisch tätig und schreibt unter anderem für die Kölnische Rundschau. Im Greven Verlag Köln erschien 2016 das von ihm verfasste und von Markus Herzberg und Annette Scholl herausgegebene Buch Liturgie von links – Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet in der Antoniterkirche.


  1. Dorothee Sölle: »Kirche ist auch außerhalb der Kirche«, in: Deutscher Evangelischer Kirchentag Köln 1965. Dokumente, herausgegeben im Auftrag des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Stuttgart und Berlin 1965, S. 294–310, hier S. 295. ↩︎

  2. Vgl. Egbert Höflich: »Das Politische Nachtgebet als Modell«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 11, 1968, S. 1147–1158. ↩︎

  3. Dorothee Sölle/Fulbert Steffensky (Hrsg.): Politisches Nachtgebet in Köln, Bd. 2: Texte, Analysen, Kritik, Köln 1970, S. 22. ↩︎

  4. Oswald Kettenberger, Tageslichtaufnahme, Wuppertal/Gütersloh 1990, o. S. (Bildnr. 112) ↩︎

  5. Rundbrief, von Pfarrer Jörg Eichert zitiert in den Antoniter-Nachrichten für September 1973. ↩︎

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