Themenwelt
von Ulrich Helbach & Lena Wormans
Im 19. und 20 Jahrhundert verließen viele Menschen deutscher Sprache, Kultur und Nationalität ihr Land. Die Gründe für ihre Emigration waren vielfältig: Sie wollten politischer Bevormundung oder wirtschaftlicher Ausweglosigkeit entgehen, hofften auf Selbstverwirklichung und berufliche Herausforderungen andernorts oder folgten dem Reiz der Ferne. In ihrer neuen Heimat behielten sie häufig ihre Sprache, kulturelle Prägung und Religionszugehörigkeit bei. Die katholische Kirche sah sich verpflichtet, ihre Mitglieder auch in der Ferne seelsorglich zu betreuen und tut das bis heute.
Das Katholische Auslandssekretariat (KAS) entstand 1921. Es war anfangs Archiv- und Informationsstelle, um – wie es damals hieß – ein „Bild über die Lage der katholischen Deutschen im Ausland zu gewinnen“. Um die im Ausland lebenden deutschsprachigen Katholiken mit Informationen zu versorgen, gab das KAS ab 1924 die Zeitschrift „Die Getreuen“ heraus und nutzte dafür das damals noch recht junge Medium der Fotografie. Von Anfang an wurden zahlreiche Fotografien gefertigt oder erworben und archiviert.
Angegliedert war das KAS der Hamburger Zweigstelle des schon 1871 gegründeten „St. Raphaels-Vereins zum Schutze katholischer Auswanderer", der ursprünglich nur Auswanderer beriet und betreute; später auch im Ausland Tätige, Geflüchtete, binationale Paare und Rückkehrer unterstützte und überdies ab 1933 jüdischen Menschen die rettende Ausreise ermöglichte. Über allem gab es seit 1918 den „Reichsverband für die katholischen Auslandsdeutschen“ (RKA) als Dachverband der „katholischen Organisationen die sich mit Fragen der Auswanderung und des Auslandsdeutschtums“ befassten. Der St. Raphaels-Verein war – inkl. des KAS - Mitgliedsverband im RKA.
Im Lauf der folgenden Jahrzehnte wechselten das KAS und damit auch die Fotosammlung mehrfach ihren Standort. Ab 1927 war der Bestand in Berlin beim Reichsverband für das katholische Deutschtum im Ausland (RKA) untergebracht, später in Frankfurt/Main bei der Kirchlichen Hilfsstelle und dann in Bonn, wo das KAS ab 1965 seinen Sitz hatte.
Heute ist die Fotosammlung des KAS Teil des Archivs der Deutschen Bischofskonferenz, das im Historischen Archiv des Erzbistums Köln fachlich betreut wird. Sie umfasst derzeit 12.931 Verzeichnungseinheiten (Einzelfotos und Fotoalben), die von 1873 bis Mitte der 1990er-Jahre entstanden, wobei der Großteil der Fotos aus den 1920er- bis 1960er-Jahren stammt. Das KAS betrachtete die Fotosammlung seit jeher als einen wertvollen historischen Schatz und hatte daher ein großes Interesse daran, sie der Öffentlichkeit und Forschung zugänglich zu machen. Daher wurde sie dem Historischen Archiv 2015 als Depositum übergeben.
In einem ersten Arbeitsschritt wurde durch Dienstleister und im weiteren vom Archiv selbst der Bestand systematisch erfasst. Die Sammlung ist sehr heterogen. Viele Fotos waren nämlich dem KAS aus deutschen katholischen Gemeinden weltweit zugesandt, manche auch gezielt von Fotografen erworben worden. Andere kamen als Schenkungen von katholischen Institutionen wie z. B. Orden und Missionsvereinen oder waren für Publikationen der KAS gezielt erbeten worden. Auch bei Besuchen von Auslandsgemeinden und Konferenzen von Auslandsseelsorgern entstanden Aufnahmen.
Die Fotos, Dias und Glasplatten waren nach Ländern sortiert und auf Pappkartons montiert, auf deren Rückseite die jeweiligen Metadaten (Fototitel, Beschreibung, Fotograf, Datierung u. ä.) erfasst waren. Die Betitelung und Beschreibung der Fotos war zeitgenössisch. Dies bedeutete für das Historische Archiv, das die Erschließung betreute, freilich, dass auch rassistische und diskriminierende Begriffe und Beschreibungen verwendet wurden. Im Zuge der Bearbeitung wurden diese als zeittypisch ausgewiesen und durch neutrale Begrifflichkeiten ersetzt oder als Zitate kenntlich gemacht.
Anschließend wurde die gesamte Sammlung mit Unterstützung der Irene und Sigurd Greven Stiftung digitalisiert. Seit März 2024 stehen die Digitalisate im „Greven Archiv Digital“ der interessierten Öffentlichkeit und dem Fachpublikum zur Verfügung. Die Entscheidung zur Vollveröffentlichung dieser Sammlung fiel den Beteiligten angesichts der heute vielfach befremdlichen Inhalte nicht leicht. Doch erschien es ihnen unabdingbar, Transparenz herzustellen und insbesondere der postkolonialen Forschung empirisches Material zur Verfügung zu stellen. Nicht zuletzt ist damit auch für die Nachfahren der Auswanderer nun der weltweite Zugriff auf die Fotos ihrer Vorfahren möglich.
Die Bilder spiegeln den Alltag und das religiöse Leben der deutschen katholischen Gemeinden in vielen Teilen der Welt wieder. In den 1920er-und 1930er-Jahren widmete sich das KAS vor allem den deutschen Auswanderern in Nordamerika und den deutschen Siedlerkolonien in Südamerika. Aber auch die jahrhundertealten deutschen Siedlungsgebiete in Südosteuropa und Russland (Siebenbürgen, Banat, Bukowina, Wolgagebiet usw.) bildeten einen Schwerpunkt der Tätigkeit. Viele Fotos aus dieser Zeit zeigen Ereignisse, wie wir sie auch aus hiesigen Pfarreien kennen: Gottesdienste, Hochzeiten, Beerdigungen Pfarr- und Kirchweihfeste, Krippenspiele, Prozessionen, Treffen von Jugendgruppen und andere Ereignisse. Daneben gibt es Porträts von Pfarrern, Kirchenchören und Gemeindemitgliedern, Aufnahmen von Kirchengebäuden, Schulen, Kinderheimen und anderen Einrichtungen. Trotz unterschiedlicher Nuancen je nach Land, zeigen die Fotos, dass deutsches „Katholisch sein“ sich weltweit ähnlich äußerte.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 wanderten teilweise ganze Dorfgemeinschaften aus vormaligen Siedlungsgebieten Osteuropas v. a. nach Amerika aus und bauten sich dort eine neue Existenz auf. Zum Teil existieren dieser Gemeinden noch heute, zum Teil sind sie längst in der Mehrheitsgesellschaft vor Ort aufgegangen.
Bis heute ist das Leben von Emigranten und beruflichen Expatriates davon geprägt, aufzubrechen, anzukommen und in einem neuen, anfangs fremden Land heimisch zu werden. Erleichtert wird dies durch die Pflege der gewohnten Traditionen und Bräuche, nicht zuletzt der religiösen. Daher sind die deutschsprachigen katholischen Gemeinden weltweit weiterhin wichtige Orte der religiösen und kulturellen Heimat und Begegnung. Dies muss kein Widerspruch zur Integration in die Mehrheitsgesellschaft sein. Sie können vielmehr als Brücken zwischen Deutschland und der Welt wirken.
Die Fotosammlung des KAS dokumentiert jedoch nicht nur die Auslandsseelsorge, sie umfasst auch unzählige Bilder, die Orte und Landschaften in aller Welt dokumentieren und Geschichten über die Ankunft, die Arbeit und den Alltag der Auswanderer erzählen. Sie zeichnen ein lebendiges Bild vom Leben in der Fremde und illustrieren das zeitlose Thema der Migration. Ein Beispiel hierfür ist das älteste Bild der Sammlung aus dem Jahr 1873. Es wurde in Buenos Aires aufgenommen und zeigt eine deutsche Auswandererfamilie nach ihrer Ankunft in Argentinien. Auf einer Aufnahme von 1937 ist ein Auswandererschiff zu sehen, das in einen brasilianischen Hafen einläuft.
Unzählige Bilder dokumentieren Bauarbeiten und landwirtschaftliche Tätigkeiten deutscher Siedler v. a. in Ländern Amerikas und Osteuropas, aber auch deren Häuser, Familienleben, Feste und geselliges Beisammensein.
Ein beachtlicher Teil der Bilder stößt uns heute auf und muss kritisch analysiert und historisch eingeordnet werden: Zu nennen sind hier Rassismus, koloniales Weltbild, NS-Propaganda, Machtmissbrauch von Priestern sowie die problematischen Seiten deutscher Auswanderung und Siedlungstätigkeit. Diese Schattenseiten sollen nicht verschwiegen werden – deshalb wird die Sammlung in Gänze gezeigt.
Das größte Problem bilden die Fotos des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die Rassismus und Diskriminierung bezeugen. Sie stellen uns vor ein Dilemma, mit den sich die „Visual History“ auseinandersetzt: „Bilder bedingen Stereotype, die bis heute wirksam sind und die bis heute Klischees und Vorurteile hervorbringen können“ , nicht zuletzt die eurozentristische Weltsicht.
Als Beispiel kann ein Foto aus Tansania dienen, das die starke soziale Hierarchie zwischen Einheimischen und Immigrierten erkennen lässt: Es zeigt in der Mitte eine deutsche Farmerfamilie und zwei an den Bildrand gedrängte Tansanier, die Elefantenstoßzähne zu halten hatten.
Explizit ist die rassistische Abwertung der einheimischen Bevölkerung in der Beschriftung eines Fotos, das einen deutschen Seelsorger in einem Ort im brasilianischen Bundesstaat Bahia zeigt. Unter den vier Jungen, die ihn begleiten, ist handschriftlich vermerkt: „Ind. [= Indianer]“, „Mischling“, „weiß“ und „schwarz“.
Subtiler ist der Rassismus auf einem Foto aus den USA, das zwei Priester mit einer Mädchengruppe zeigt, bei der es sich laut Bildbeschriftung um „einige Waisen“ handelt, sowie auf einem Foto mit zwei Priestern und einer Haushälterin auf einem Friedhof im Juli 1929. Beide Fotos stammen von der sogenannten „Indianermission“ der Benediktiner im Bundesstaat Minnesota. Ab 1878 betrieb der Benediktinerorden im Reservat der White Earth Nation/Ojibwe eine Schule, die 1892 in ein Internat umgewandelt wurde. Wie wir heute wissen, haben viele indigene Kinder, die in den USA (und in Kanada) diese sogenannten „Indian boarding schools“ besuchen mussten, traumatische Erfahrungen gemacht, so auch in White Earth. Von alledem drücken die harmlos daherkommenden Fotos nichts aus.
Sehr aktuell ist noch ein Punkt: Das Ausland war leider auch der Raum, in dem sich einzelne Priester bewegt haben, die sich in Deutschland des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht hatten.
Auf andere Weise problematisch sind auch Aufnahmen aus der NS-Zeit, auf denen Paraden und Aufmärsche, Menschen, die den Hitlergruß zeigen, und Soldaten in NS-Uniformen zu sehen sind. Der Reichsverband für das katholische Deutschtum im Ausland vertrat eine nationalistische Haltung, in der sich katholischer Glaube und „deutsches Volkstum“ verbanden. Man kann davon ausgehen, dass sie auch zu Werbe- bzw. Propagandazwecken für die Ideen des „Deutschtums“ – ganz im Sinne der NS-Ideologie – zum Einsatz kamen.
Seit einigen Jahren gibt es verstärkte Bemühungen, das koloniale Erbe und die damit verbundenen (und teilweise bis heute fortdauernden) Haltungen aufzuarbeiten. Postkoloniale Studien sind inzwischen fester Bestandteil der aktuellen wissenschaftlichen Forschung. Um wichtige historische Fragen – auch in Bezug auf das koloniale Erbe der katholischen Kirche in Deutschland – klären zu können, stellt das KAS der Forschung entsprechende Quellen zur Verfügung.
Die glücklicherweise gut und vollständig erhaltene Fotosammlung des KAS ergänzt bestehende Bestände zu deutscher Emigration und weltweiter Migration, zu deutschen Gemeinden im Ausland und deutscher Kolonialgeschichte. Sie liefert einen Beitrag zur Kultur-, Alltags- und Architekturgeschichte und ist nicht zuletzt für die katholische Zeitgeschichte und die „Visual History“ von Interesse.
Sie ist eine in dieser Form einzigartige Quelle für das religiöse katholische deutsche Leben im Ausland und bezeugt das Selbstbild und den Glauben deutschsprachiger Auswandererfamilien über mehrere Generationen hinweg. Der online gestellte Teil bietet eine Rückschau auf vergangene Zeiten, doch wächst das Archiv des KAS beständig weiter und dokumentiert auch im 21. Jahrhundert das Gemeindeleben der katholischen-deutschen Auslandsgemeinden weltweit. Wie diese aktuellen Einblicke von der historischen Forschung wahrgenommen und bewertet werden, wird sich zeigen.
Ergänzende Quellen und Literatur
AEK, Deutsche Bischofskonferenz, Katholisches Auslandssekretariat, Schriftgut
Michael Altmaier/Peter Lang: 100 Jahre Katholisches Auslandssekretariat, Bonn 2021, online abrufbar: www.auslandsseelsorge.de/fileadmin/redaktion/microsites/kas/Aktuelles/Jubiläums-Festschrift_Katholisches_Auslandssekretariat.pdf
85 Jahre Katholisches Auslandssekretariat (KAS) (1921–2006), in: Miteinander. Vom Katholischen Auslandssekretariat, von Gemeinde zu Gemeinde, weltumspannend, 11. Jg, Heft 2 (Sonderausgabe), Bonn 2006
Christoph Köster: Migration, Religion und Nationale Minderheiten. Deutscher Katholizismus und Katholische Auslandsdeutsche 1900–1950, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 135 (2015), S. 94–129
Presseartikel zu White Earth: https://www.mprnews.org/episode/2021/10/26/the-order-of-st-benedict-apologize-to-white-earth-nation-for-native-boarding-school; https://www.mprnews.org/story/2021/10/26/a-reckoning-monastic-order-apologizes-for-native-boarding-school; http://stbensisters.blogspot.com/2009/11/benedictines-and-ojibwe-in-minnesota.html (alle abgerufen am 9.12.2023)
Lucia Halder, Kuratorin der fotografischen Sammlung im Kölner Rautenstrauch-Joest Museum, zitiert von Dörte Hinrichs, „Visual History“-Forschung. Neue Sicht auf alte Fotos, in: Deutschlandfunk Archiv (1.10.2020) (https://www.deutschlandfunk.de/visual-history-forschung-neue-sicht-auf-alte-fotos-100.html) abgerufen 29.1.2024)
Ulrich Helbach (geb. 1958) ist promovierter Historiker, Archivar und seit 2004 Leiter des Historischen Archivs des Erzbistums Köln. Seit 2016 hat er außerdem einen Lehrauftrag an der Universität Bonn im Fach Archivkunde inne. In seiner wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt er sich vor allem mit der Regional- und Kirchengeschichte des Rheinlandes, besonders in der Zeit des Nationalsozialismus und den Jahren nach dem Kriegsende.
Lena Wormans (geb. 1987) ist Dipl.-Archivarin, zunächst im Staatsarchiv Hamburg tätig und seit 2014 im Historischen Archiv des Erzbistums Köln; dort zuständig für das Archiv der Deutschen Bischofskonferenz.
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